„Hättest du das gedacht, als wir Abi machten?“ fragt sie mit einem süffisanten Lächeln. Und setzt dann hinzu: „Ach, wahrscheinlich schon.“ Ein wenig spöttisch.
Dabei nimmt sie sich selbst so schrecklich ernst, dass von Spott eigentlich keine Rede sein kann. Wie früher mit 14, als wir geübt haben, uns den Milchschaum vom Cappuccino von der Oberlippe zu lecken und dabei sexy auszusehen. Die Kunst lag darin, die Lippe nichtverschreckt einzuziehen, aber auch nicht pornomäßig nach außen zu stülpen. Ich brach meistens irgendwo zwischen diesen beiden Extremen vor Lachen zusammen. Sie lachte dann mit. Aber mehr über mich und meine absolute Unfähigkeit zur Erotik als über sich selbst und ihren gekünstelten Versuch, anziehend zu sein.
Wahrscheinlich habe ich sie damals insgeheim beneidet um ihren eisernen Willen und ihre Überzeugung, irgendwie zu wirken. Ich wirkte nicht, schon gar nicht auf Jungs. Jungs waren meine Kumpels und meine besten Freunde, meine Jungs eben. Geknutscht haben sie mit meinen Freundinnen. Zum Beispiel mit ihr.
Inzwischen ist sie mit einem von diesen Jungs verheiratet, hat gerade das dritte Kind bekommen und wartet auf den Notartermin, um die Papiere zum Hauskauf zu unterzeichnen, ganz in der Nähe von dem Cafe, in dem damals die Cappuccino-Lippen-Übungen vonstatten gingen. „Hättest du das gedacht?“ Ich weiß nicht, was ich gedacht habe, was ich oder meine Freunde in 15 Jahren machen würden. Meine Gedanken waren vermutlich ziemlich mit der unmittelbaren Zukunft beschäftigt, und die lag überall, aber nicht da, wo ich war.
Wenn ich später aus der weiten Welt, die ich zu erkunden aufgebrochen war, nach hause zurückkehrte, schenkte sie mir in der Regel das gleiche spöttische Lächeln wie jetzt. Dabei warf sie ihre langen braunen Haare nach hinten mit einer Geste, die mir nicht natürlich vorkam. Hatte sie das ebenso einstudiert wie die Sache mit dem Cappuccino? Vielleicht sogar vor dem Spiegel? Ich erzählte begeistert von der schönen Studienstadt, von den Kneipenabenden mit Rotwein, Zigaretten und Klaviermusik, von den Menschen, die mir ans Herz gewachsen waren. Sie nickte gelangweilt. Ging es um Jungs, oder, wie wir inzwischen betonten, Männer, dann fragte sie: „Läuft da was zwischen euch?“ Verneinte ich, schüttelte sie gewichtig den Kopf. „Deine Ansprüche sind einfach zu hoch.“ Ihr Verhalten tat mir weh, ohne dass ich benennen konnte, warum. Es dauerte lange, sehr lange, bis ich begriff, dass ich traurig war, weil sie mir das Gefühl gab, ich sei ohne einen Partner wertlos.
Vermutlich habe ich sie da immer noch beneidet. Sie schien so angekommen in diesem Leben, das in meinen Augen noch immer dasselbe war und ihr doch immer genügte. Mir genügte es nicht, ich wollte mehr. Im Grunde hatte sie Recht: Meine Ansprüche waren hoch. Aber sie waren nicht zu hoch. Sie waren eben meine Ansprüche. Ich war nicht im Stande, sie künstlich zu verkleinern.
Als es soweit war, dass ich meine Erfahrungen mit Männern machte, war es schon nicht mehr notwendig, zu betonen, dass es sich um Männer handelte. Tatsächlich war sie an diesem Punkt schon wieder dazu übergegangen, ihren Freund und seine Freunde, die früher meine Freunde waren, als „Jungs“ zu bezeichnen. Um es zu umgehen, das ewige Spiel um das Erwachsenfühlen und das Jungbleiben und den Versuch, beides in Sprache zu gießen, verlagerten wir uns auf den Begriff „Kerle“. Aber über Kerle sprach ich mit ihr nicht, jedenfalls nicht ehrlich. Lieber erzählte ich von meinen Reisen und von der Unabhängigkeit, die meine große Liebe war. Ich könne nicht klagen, vermeldete ich meistens, wenn sie doch nachfragte. Am schlimmsten war es, wenn darauf Gespräche folgten, in denen sie mich glühend um mein Single-Leben beneidete und ich ihr glaubhaft zu versichern suchte, dass es furchtbar sei und sie den letzten anständigen Kerl (sic!) abbekommen hätte. Der Gipfel der Verlogenheit, und gleichzeitig die Wahrheit, damals, in der jugendlichen Verzweiflung, die sich immer das Gras auf der anderen Seite erträumt.
Im Grunde hat sich an dieser Konstellation nichts geändert. Sie scherzt, dass es bald an der Zeit sei für eine Affäre mit einem jüngeren Mann, jetzt nach dem dritten Kind. Ich mache bedeutungsschwere, galgenhumorgetränkte Andeutungen über die biologische Uhr. Tauschen wollen wir beide um keinen Preis.
Ihr Lächeln schaukelt zwischen Spott und Selbstgefälligkeit. Es flüstert mitleidig: „Es ist so schade, dass du es nicht geschafft hast, zurückzukommen.“
Und mein Lächeln? Es denkt: „Es ist so schade, dass du es nie geschafft hast, hier rauszukommen.“ Es denkt so laut, dass sie es hören muss, sogar den abfälligen Tonfall. Und vielleicht ist ihr dieses gegenseitige Anlächeln ebenso zuwider wie mir.