Es ist Ruhe eingekehrt. Jetzt, da die Gegenwart nicht mehr so vereinnahmend ist, habe ich Zeit, nachzudenken. Über früher. Und über dich.
Früher hatten wir zuhause einen Wasserkessel, den man auf den Herd stellte, wenn man Tee trinken wollte. Wenn das Wasser kochte, pfiff der Kessel. In der Welt der smarten Objekte fühlt sich diese Erinnerung völlig aus der Zeit gefallen an. Ich sehe dich noch in der Küche, wie du das Wasser aufgießt in einem Teenetz, das sich unter den vielen Teestunden braun gefärbt hat und auch trocken noch nach Earl Grey riecht.
Nach dem Mittagessen gibt es einen Tee und Mittagspause. Da liest du ein bisschen, im Sommer auf der Terasse, im Winter in Omis altem, aber neu bezogenen Ohrensessel im so genannten „kleinen Zimmer“, in das all die Mahagonimöbel von deinen Großeltern gewandert sind, die Papi im Wohnzimmer nicht stehen haben wollte.
In der Mittagspause darf dich keiner stören. Ich darf nicht Klavier üben, und meine Freundinnen dürfen nicht anrufen. Meistens nickst du über deinem Buch ein bisschen ein. Den Tee schaffst du aber immer auszutrinken. Du liebst es, wenn er richtig heiß ist. Lauwarm kannst du nicht ausstehen, auch beim Essen nicht. Deshalb ist dein Teller auch immer als erster leer. Und deswegen, weil du uns und Papi immer viel größere Portionen gibst.
Früher, vor Omis Tod, stand im kleinen Zimmer noch nicht der Ohrnsessel, sondern eines der alten Kinderbetten. Die haben ganz früher übereinander im Kinderzimmer gestanden, als Stockbett. Daran kann ich mich aber nicht erinnern. Zu meiner Zeit stand im Kinderzimmer nur noch das rote. Das blaue stand im kleinen Zimmer.
Es gab einen Winter, da waren meine Schwestern gerade beide ausgezogen. Ich war 12 oder 13. Und da haben du und ich uns in der Mittagspause immer auf das blaue Kinderbett im kleinen Zimmer gelegt und du hast mir vorgelesen. Alte, kitschige Kinderbücher, Nesthäkchen und Friedel Starmatz. Wenn es traurig war oder besonders schön, haben wir beide geweint.
Wenn der Frühling kam, hast du an sonnigen Tagen einen Stuhl vom Esstisch in die Terassentür gestellt, dir eine Wolldecke genommen und dich in der Mittagspause in die erwachende Sonne gesetzt. Mit deinem Tee. Wenn es draußen kalt war, dampfte der besonders, wenn du in die Sonne und auf den Garten und dein Glück geschaut hast.