Es gibt Menschen, die fragen immer nach meiner Mutter. Nicht alle wissen, wie sie auf meine Erzählungen reagieren sollen, für die meisten ist es ein unbequemes, ein unheimliches Thema. Nicht nur die Demenz ist beängstigend, für Freund*innen im gleichen Alter ist es auch oft gruselig, sich mit dem Altern der eigenen Eltern auseinanderzusetzen. Manchmal habe ich den Eindruck, Demenz ist noch unvorstellbarer als der Tod. Trotzdem gibt es diejenigen, die immer nachfragen und sich ihrer Hilflosigkeit im Angesicht meiner Berichte nicht schämen. Und diese Anteilnahme ist wohltuend und heilsam.
Oft, wenn ich von Mami spreche, bin ich beängstigend sachlich. Es gibt ja auch immer etwas zu organisieren, zu klären, zu planen. In der letzten Zeit bin ich dünnhäutiger geworden, zum Beispiel, wenn Demenz in Film und Fernsehen porträtiert wird. Vor ein paar Wochen bei „Coco“ habe ich geweint. Vorgestern bei „Männerherzen“ habe ich Rotz und Wasser geheult. Dabei ist die Stelle in „Coco“ eigentlich viel ergreifender. Ob bei mir gerade ein Trauerprozess einsetzt? Ich kann jedenfalls auch nicht mehr so ruhig und rational von ihr berichten.
Vor einem Jahr war Mami noch bei unserer standesamtlichen Hochzeit und auch wenn das mit verschiedenen organisatorischen Schwierigkeiten verbunden war, haben einige von ihrer Krankheit überhaupt nichts bemerkt. Letzte Woche war ich bei ihr, und was sie sagen konnte, beschränkte sich auf „Hallo meine Süße!“ Sie hat einige Male versucht etwas zu sagen, aber es kommt nur Kauderwelsch heraus. Was mich beruhigt ist die Tatsache, dass sie nicht mehr weint, wenn es nicht klappt. Es gab eine Phase, da war sie so schrecklich unglücklich, wenn sie nicht sagen konnte, was sie zu sagen versuchte.
Bei meinem letzten Aufenthalt habe ich Papi am Einkaufstag eine Liste mit Erledigungen gemacht und an die Wohnungstür gehängt. Er sah mich dankbar an und sagte: „Mit so ’ner Frau möcht ich auch mal verheiratet sein.“ Wir haben beide herzlich gelacht, dann habe ich gesagt: „Papi, du warst doch mit so einer Frau verheiratet.“ Und dann: „Du BIST mit so einer Frau verheiratet.“ Diese Korrektur verfolgt mich seither. Um Mami zu trauern ist grauenvoll, und ich glaube, das liegt daran, dass sie ja nicht tot ist. Sie ist noch da. Aber sie ist nicht mehr da. Und langsam wird diese Unvorstellbarkeit für mich greifbar. Und ich weiß manchmal nicht, wie ich das ertragen soll.
Manche Leute fragen nie nach meiner Mutter. Sie umgehen das Thema, als könnte man es einfach in eine Abstellkammer räumen und sich nur gelegentlich ärgern, wenn man auf der Suche nach etwas anderem darüber stolpert. Ich will nicht unfair sein. Für die meisten Leute in meinem Alter sind eher Kinder bestimmend als alte Leute. Manchmal ist sich der Umgang mit beiden grausam ähnlich. Ich denke das, wenn ich Mami ihre Schuhe anziehe. Wenn ich ihr ins Bad helfe. Wenn ich auf einen Gegenstand zeige und sie frage, was das ist.
Ich hätte all diese Erfahrungen auch lieber mit einem Kind gemacht als mit meiner Mutter.