Im Bus nach Riga werden wir auf deutsch dazu aufgefordert, unsere Dokumente vorzuzeigen, und als wir dann losfahren, macht der Busfahrer die Ansagen auf litauisch, russisch und deutsch. Wiebke vermutet, dass er nur für uns deutsch spricht, darauf wäre ich gar nicht gekommen; aber es ist schon immer erstaunlich, wenn im Ausland jemand so gutes Deutsch spricht. Englisch ist mir zum Kommunizieren im Ausland viel lieber, schließlich handelt es sich dabei meist auf beiden Seiten um eine Fremdsprache, das ist nur fair. Zu erwarten, dass jemand Deutsch kann, kommt mir immer ein bisschen vermessen vor. Zu erwarten, dass jemand Englisch kann, kommt mir ziemlich selbstverständlich vor. Logisch ist das nicht.
In Riga holt uns Martin am Busbahnhof ab. Wiebke kennt ihn durch unser gemeinsames Ehrenamt. In seiner geräumigen Altbauwohnung macht er uns erstmal eine Riesenportion Bratkartoffeln. Abends kommt eine ganze Menge Freunde von ihm vorbei: noch ein anderer Deutscher und eine Horde Letten. Es wird eine gemütliche Studentenparty, die sich über netten Gesprächen und dem ein oder anderen Bier bis in die frühen Morgenstunden hinzieht. Wiebke und ich schlafen irgendwann angezogen auf dem Sofa ein, als ich aufwache hat uns einer der Jungs zugedeckt und die letzten Gäste feiern in der Küche immer noch. Ich denke an meine frühen Studentenjahre, lächle in mich hinein und schlafe wieder ein.
Am nächsten Morgen schläft Martin noch, als wir ein paar Sachen in unseren kleinen Tagesrucksack packen und uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Durch die Altstadt laufen wir zuerst zu Coffee Inn, einer Art baltischem Starbucks mit phantastisch cremigem Käsekuchen und gutem Kaffee. Dort holen wir uns ein kleines Frühstück und suchen dann den Bahnhof. An einer Strassenecke fragt Wiebke den jungen Mann neben uns an der Ampel. Er spricht nur gebrochen Englisch, aber er sagt gleich bereitwillig: „Train station? I go there, I show you.“ Er fragt uns dann auch gleich sehr interessiert, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Ich bewundere es, wenn Menschen Kontakt in einer Sprache suchen, die sie nicht so gut können. Wenn ich mich in einer Sprache nicht sicher fühle, bin ich meistens sehr unsicher und geradezu schüchtern. Der Kerl ist von einer so angenehmen, unaufdringlichen Freundlichkeit, dass die Sprachbarriere gar nicht ins Gewicht fällt. Er zeigt uns Patronenhülsen, die er auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in der Nähe entdeckt haben will. Seine Augen leuchten vor Begeisterung über diesen Fund. Er hilft uns beim Ticketkauf und bringt uns bis zum Gleis, wo er sich sehr höflich verabschiedet.
Im Zug nach Cesis (dt. Wenden) essen wir unsere Brote. Die Vegetation draussen erscheint mir sehr baltisch: sandige Böden, Nadelwälder, Gräser und Strandhafer. Je weiter wir aber ins Landesinnere vordringen, desto mehr Laubbäume bestimmen auch die Landschaft. Es ist mir vertraut, und es berührt mich mehr, als die litauische Landschaft es bisher getan hat.
Am Bahnhof in Cesis versuchen wir, den Fahrplan zu entschlüsseln, aber er ist sehr kryptisch. Eine ältere Dame sitzt mit ihrem vielleicht sechsjährigen Enkel auf der Bank daneben und spricht uns auf lettisch an. Ich versuche, ihr zu erklären, dass wir nicht nach Riga wollen, sondern nach Sigulda, und auch erst in ein paar Stunden, aber sie spricht kein Englisch – plötzlich beginnt ihr kleiner Enkel meine langsam gesprochenen Sätze mit einer unglaublichen Routine zu übersetzen. Erstaunlich. Vielleicht häufen sich hier die Reflexionen über Sprache, weil ich wieder in einem Land bin, in dem ich die Landessprache kein bisschen verstehen, geschweige denn sprechen kann. Es ist ein anderes Reisen, man muss viel mehr nachfragen, weil man weniger nebenbei aufschnappen kann. Manche Schriftzüge auf Denkmälern photographiere ich, um später jemanden fragen zu können, was dort steht. Und trotzdem entgeht mir so vieles. Ich beschliesse in allen drei Ländern dieser Reise, dass ich die Sprache lernen möchte. Hätte man doch nur mehrere Leben zur Verfügung, um all das unterzukriegen, was man gerne machen möchte.
Wir laufen durch einen hübschen kleinen Park an einem See entlang, ohne den Stadtplan zu entfalten, und wie es in einer so kleinen Stadt zu vermuten war, taucht sie plötzlich auf ihrem Hügel thronend vor uns auf, die Burg von Cesis.
Unten am Parkteich führt ein kleiner Treppenabsatz zum Ufer, der von zwei weissen Statuen gesäumt ist, die sich in Richtung der Burg verneigen. Weiter oben am Hang gibt es eine Freitreppe, auf deren Geländer kleine weisse steinerne Engel Musikinstrumente spielen, als wollten sie den, der die Treppe beschreitet, mit Glanz und Gloria zur Burg geleiten. Alles erinnert ein bisschen an eine Kulisse für Schwanensee. Im Nieselregen wandern wir in unseren leuchtend blauen Regencapes einmal die Burgmauer ab. Graue Feldsteine, rote Backsteine und auf dem Turm des neuen Schlosses die lettische Fahne.
1988 wehte sie zum ersten Mal in ganz Lettland wieder hier. Auch gestern auf der Party ging es darum: Lettland hat gelitten, bevor es seine Unabhängigkeit wieder erlangt hat, und Wiebke findet, dass man den älteren und alten Menschen hier ihr hartes Leben ganz anders ansieht als noch in Litauen. Vielleicht lag es an Vilnius, das sehr herausgeputzt ist. Und mich fasziniert wieder Lettland, wieder ein Land, das eine Schwere mit sich trägt und trotzdem eine lebendige, fröhliche Gegenwart zu gestalten vermag.
Abends fahren wir nach Sigulda. Martin hat uns hier eine Unterkunft bei seinem Freund Karlis besorgt. Er zeigt uns noch auf dem Weg vom Bus ein paar herrliche Ausblicke über das Gauja-Tal, in dem sich der Fluss, eben die Gauja, in der Abendsonne friedlich dahinschlängelt.
Anschliessend gibt es Abendbrot in der Wohnung seiner Eltern in der kleinen Küche. Wir unterhalten uns lange mit seiner Mutter, die Geschichtslehrerin ist, am Baltischen Weg teilgenommen hat und deren Mann 1991 bei den Barrikaden in Riga im Kampf um die lettische Unabhängigkeit teilgenommen hat. Sie erklärt uns, was es mit der Singenden Revolution auf sich hat, im Rahmen derer im Baltikum durch das Singen von traditionellen patriotischen Liedern denr Sowjetmacht der Kampf angesagt wurde. Karlis hat uns schon ein bisschen darüber erzählt, er sagt viel, dass mit militärischen Mitteln ja nichts auszurichten gewesen sei. Aber wieviel schöner ist es auch, wenn ein Land behaupten kann, durch Musik zur Unabhängigkeit gekommen zu sein. Blut hat es bei den Barrikadenkämpfen in allen drei Ländern genug gegeben. Wir schlafen in einem Zimmer in der Zweiraumwohnung, die Familie zu dritt in dem anderen. Die osteuropäische Gastfreundschaft, die mich immer wieder in Erstaunen versetzt, ich kann mir so etwas in Deutschland kaum vorstellen.
Am nächsten Morgen schüttet und giesst es, dass man kaum vor die Tür gehen mag. Wir nehmen den Bus zur Ordensburg von Turaida, die wir am Abend zuvor schon leuchtend rot in der Ferne auf der anderen Seite des Gauja-Tals entdeckt haben.
Das Gelände ist gross, wegen des Regens können wir es nicht so ausführlich erkunden, wie wir es gerne würden. Wir halten uns deshalb in den Gebäuden der Burg auf, in denen Ausstellungen über die Geschichte der Livländischen Schweiz, in der wir uns befinden, aufklären. Der Blick, ins Land vom Burgturm zeigt schwarze, dampfende Wälder, aus denen dicke Nebelschwaden aufsteigen wie in einem Märchen über einen bösen Zauberer. Die Gauja macht unter uns einen grossen, mächtigen Bogen und ist von fast bleierner Farbe, schwer und beruhigend.
Später, von der Brücke im Tal aus nach dem Abstieg übver die glitschigen Holzstufen, ist die Gauja rot von Eisen, aber sie soll sehr sauber sein. Wir nehmen den Sessellift zurück auf die Höhen von Sigulda. Die Sonne scheint wieder, die Regencapes sind im Rucksack verstaut. Wir besuchen das Neue Schloss mit seinen bunten Farben und die dahinterliegende Schlossruine mit ihrer riesigen Sommerbühne und den hübschen kleinen Aussichtspunkten, die wieder den Blick auf die rote Ordenbsurg von Turaida freigeben.
Sigulda ist ein malerischer Ort voll von Geschichte und von Geschichten. Wir hätten gerne noch etwas mehr Zeit im Sonnenschein gehabt. Zu früh müssen wir zurück zum Bus, der uns wieder in die Grossstadt Riga bringen soll.
Die zwei Tage in der freien Natur, sie waren sehr wichtig für uns. Unsere Körper erholen sich von der Schreibtischarbeit, unsere blassen Gesichter haben etwas Farbe und wir sind froh, dass sich unser Eindruck von Lettland nicht auf Riga beschränken wird. Karlis hat gesagt, dass wir in Sigulda ein Stückchen vom „wahren Lettland“ kennen lernen. Nicht zuletzt dank der privaten Geschichtsstunden bei seiner Mutter mag das wohl stimmen.