Der @kurzhaarschnitt hat hier über seine Oma gebloggt. Die @mettministerium hat hier über ihre Familie gebloggt. Die @meg_gyver hat schon letztes Jahr hier über sich selbst gebloggt. Fluchtgeschichten. Flüchtlingsgeschichten. Vertriebenengeschichten. Sie haben in diesem Sommer eine ganz neue Bedeutung bekommen.

Als ich auf diesen Tweet stieß, hatte ich zugegebenermaßen noch nicht über die historischen Parallelen nachgedacht. Deshalb rief ich meinen Vater an und fragte ihn, ob ihn die Flüchtlingsthematik eigentlich besonders emotional berühre, wo er doch selbst geflüchtet sei.

Mein Vater ist im Winter 1945 als Vierjähriger mit einem Flugzeug vom Flughafen Danzig-Langfuhr mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester nach Lübeck abgeflogen. Den Flughafen gibt es nicht mehr. Ich habe aber schon auf dem riesigen, schlecht besuchten Parkplatz gestanden, der heute an derselben Stelle ist und dessen zahlreiche Schlaglöcher nur notdürftig repariert sind. Von Lübeck aus gelangten die drei nach Hamburg, wo sie nach dem Krieg mein Großvater fand, der schon immer in Hamburg hatte leben wollen. Wenn man mir davon erzählt hat, klang all das immer nach einem seltsam deplatzierten Happy End.

Bevor es soweit kommen konnte, hatte meine Großmutter sich schon mit den Kindern aus den ländlichen Masuren in die große Stadt Danzig, die mein Großvater dennoch immer als provinziell empfunden haben soll, durchgeschlagen. Auch in der Wohnung in dem kleinen ostpreußischen Städtchen, in der mein Vater zur Welt kam, bin ich schon gewesen.

Ich stehe an einem grauen Augusttag vor drei Jahren mit meinen Eltern vor dem schönen alten Mehrparteienhaus in dem Örtchen an einem masurischen See und versuche, eine Ehrfurcht zu verspüren, die sich nicht einstellen will. Die Haustür steht offen. Wir gehen hinein und in den zweiten Stock. Wir stehen vor der Wohnungstür. Ich sage: „Wollen wir rein?“ Mein Vater sagt: „Ja, du möchtest das ja gerne.“ Ich möchte mir einbilden, dass er mich als Ausrede braucht und eigentlich selbst auch die Wohnung sehen will, in der er geboren wurde. Aber ich kann mir nicht sicher sein. „Aber du klingelst,“ bitte ich ihn.

Ein junger, gedrungener Mann in Boxershorts öffnet die Tür und schaut uns gleichermaßen überrascht wie herrisch an. Ich lerne nun seit über einem Jahrzehnt Polnisch und ich kann mich weiß Gott passabel verständlich machen, aber in jenem Moment ist mir, als hätte ich die Sprache nie benutzt. Meine Zunge will sich nicht um die weichen, zischenden Konsonanten wickeln und ich muss mich schrecklich deutsch anhören, als ich erkläre, wer wir sind und frage, ob wir einen kurzen Blick in die Wohnung werfen dürfen. Als er antwortet, spricht er mit einem breiten, bequemen weißrussischen Akzent. Wir sehen uns in der Wohnung um, mein Vater erklärt in aller Kürze, wem welches Zimmer gehört hat und wo früher der Kachelofen stand. Dann sind wir wieder draußen.

Anschließend umrunden wir den See und ich frage ihn, wie das gerade für ihn gewesen ist. Er zuckt die Achseln. Heimat, sagt er, ist nicht der Ort, an dem man zufällig zur Welt gekommen ist. Es ist der Ort, an den einen Gefühle binden, und Gefühle haben in der Regel mit anderen Menschen zu tun. Heimat ist Familie, Heimat sind Freunde. Seine Heimat ist die Stadt, nach der sich sein Vater schon vor dem Krieg gesehnt hat (weil sie eben nicht provinziell war). Die Stadt, in der er selbst aufgewachsen ist und in der er seine Familie gegründet hat, die Stadt seiner beruflichen Erfolge und seines häuslichen Glücks. Seine Heimat ist Hamburg. Es ist schön hier, gewiss. Aber er spürt keinen Verlust.

Als ich meinen Vater anrief, um ihn zu fragen, ob er auf die aktuellen Nachrichten wegen seiner Geschichte einen besonderen emotionalen Blick habe, verneinte er. „Ich habe mich nie als Flüchtling gefühlt,“ sagte er.

Was heißt das, sich als Flüchtling zu fühlen?

Verarmt? Entwurzelt? Durcheinander?

Hungrig? Durstig? Kalt? Krank?

Unerwünscht?

Mein Vater hat viel Glück gehabt. Meine Großmutter hat damals wohl auch versucht, mit den Kindern auf die Wilhellm Gustloff zu kommen. Das hat nicht geklappt – Gott sei Dank, oder ich wäre heute höchstwahrscheinlich nicht da. Was in meiner Familie passiert ist, ist womöglich die Luxusvariante einer Flucht.

Aber wäre es nicht schön, wenn Menschen, die alles hinter sich lassen mussten, heute hierher kommen und später, viel später vielleicht sagen könnten: Ich fühle mich nicht als Flüchtling. Ich bin hier aufgewachsen, habe Familie gegründet, hier sind meine beruflichen Erfolge und mein häusliches Glück.

Ich glaube, das zu erreichen könnte ein erstrebenswertes Ziel sein.

[EDIT] Als die Aktion #bloggerfuerfluechtlinge ins Leben gerufen wurde, gab es diesen Text schon. Ein zweiter würde vermutlich weniger persönlich ausfallen, deshalb hoffe ich, dass auch so noch viele von euch diesem Link zur Spendenaktion folgen werden und Flüchtlinge unterstützen. Jeder kann etwas tun. Aus vielen Kleinigkeiten erwächst eine große Hilfe, die sich fremdenfeindlichen Angriffen entgegenstellt.