Seit einer halben Ewigkeit liegt ein Tweet ungetwittert in meinem Entwürfeordner, weil ich nicht weiß, wie ich ihn zu Ende schreiben soll. Er besteht nur aus einem simplen Satz, an dem doch (m)eine ganze Erfahrungswelt hängt, und ich fürchte, dass ich ihn so nicht in die Welt schicken kann, denn er trägt für mich eine Bedeutung, die man da draußen wahrscheinlich nicht in ihm erkennen kann. Ich müsste ihn ergänzen, um mich zu erklären, aber ich weiß nicht, womit oder durch was. Bisher steht da nur: „Ich hatte mal so viel weniger Angst.“
„Mal“, das ist noch gar nicht so lange her und scheint dafür aber auch schon immer da gewesen zu sein. Der Legende nach habe ich meinen Eltern bereits mit vier Jahren fröhlich und bestimmt gesagt, sie sollten doch auch ohne Babysitter ins Konzert gehen, ich bliebe dann eben allein zuhaus. Mit 15 brach ich auf, ein Schuljahrahr in den USA zu verbringen – ohne auch nur ein bekanntes Gesicht auf der anderen Seite der Welt. Direkt nach dem Abitur zog ich zum Studium in die Fremde. Mehr Auslandsaufenthalte und Reisen auf eigene Faust folgten. Nichts von dem hat mir Angst gemacht. Geradezu furchtlos war ich, und diese Furchtlosigkeit hatte viel mit einer unbändigen Neugier, aber auch mit jugendlichem Trotz zu tun. „Das wäre doch gelacht, dachte Jonathan Trotz, wenn das Leben nicht schön wäre!“ schreibt Erich Kästner im geliebten Kinderbuch Das fliegende Klassenzimmer.
Warum Trotz? Einige meiner furchtlosesten Erfahrungen waren nur deshalb bemerkenswert, weil ich sie allein machen musste. Da waren immer Menschen, die mir nahe waren, und trotzdem konnte (oder wollte?) ich mein Leben nicht ganz teilen, auch wenn ich es mal versucht habe. Irgendwie lernte ich, mit dieser Einsamkeit zu leben und sie mir so zu gestalten, dass ich trotzdem glücklich sein konnte. Dazu gehörte, vor Dingen nicht zurückzuschrecken, nur weil ich sie ohne Begleitung machen musste. Warum sollte ich denn nicht fünf Monate in Südosteuropa backpacken – auch ohne dass jemand mitkam? Das wäre doch gelacht, dachte das Brückenmädchen, wenn ich mich von der Einsamkeit zurückhalten lassen würde!
Damals hab ich oft gehört, ich sei wahnsinnig mutig. Ich fand mich gar nicht mutig, weil ich keine Angst verspürte. Mutig ist man erst dann, wenn man seine Ängste überwinden muss. Ohne Angst kein Mut. Das dachte ich damals. Und heute wird mir erst klar, wie viel Wahrheit darin steckt.
War ich eigentlich nur aus der Not der Einsamkeit heraus furchtlos?
Ich bin inzwischen nicht mehr allein. Hin und wieder werde ich darauf gestoßen, was für eine fundamentale Veränderung das für mein Leben bedeutet hat – obwohl dieser Zustand nun schon so lange anhält, dass ich beginne, die Einsamkeit zu vergessen. Manchmal gruselt mich das, auch wenn sich an dieser Nicht-mehr-Einsamkeit wohl in absehbarer Zukunft nichts ändern wird. Mir geht langsam auf, dass es sehr schwer ist, auf sich selbst aufzupassen, dass es aber noch viel schwerer ist, auf sich selbst aufzupassen, wenn man dabei Rücksicht auf jemanden nehmen möchte, der das eigene Leben teilt. Mich weht der Hauch einer Ahnung an, um wieviel wichtiger diese Erkenntnis noch werden wird, wenn es sich dabei um Kinder dreht und nicht um den Partner. Aber soweit sind wir noch nicht.
Vielleicht ist es das schon – vielleicht habe ich mehr Angst als früher, weil es nicht mehr nur um mich geht und weil mein Leben dadurch auf eine Art wertvoller geworden ist, die es vorher nicht gab. Vielleicht habe ich einfach mehr zu verlieren. Aber irgendetwas sagt mir, dass das noch nicht der Kern der Dinge ist. Möglicherweise, weil es in meinem Naturell liegt, ganz allein die Verantwortung für mich zu übernehmen – auch für meine Ängste.
Vielleicht habe ich gar nicht mehr Angst. Vielleicht ist nur die Notwendigkeit kleiner geworden, mutig zu sein. Ich bin ja nicht mehr in dem Alter, in dem sich alle Naslang ein Auslandsaufenthalt anbietet, in dem ich den Urlaub besonders günstig gestalten und deswegen Couchsurfen muss, in dem ich ausbildungs- oder berufsbedingt alle paar Jahre in eine neue Stadt ziehen muss. Und wer weiß, vielleicht hätte ich vor diesen Dingen immer noch keine Angst, wenn sie mir bevorstünden.
Wovor habe ich denn eigentlich diese Angst, die ich früher nicht hatte?
Wo ich so darüber nachdenke, kann ich es eigentlich gar nicht genau sagen. Das treffendste, das ich zu formulieren imstande bin, ist dies: Ich habe Angst davor, vielleicht nicht glücklich zu werden. Diese Angst wiederum kann ich recht genau verorten. Sie hat damit zu tun, dass es in meinem Leben gerade bestimmte Dinge gibt, die mir nicht gefallen und an denen ich, zumindest für den Moment, nichts ändern kann. Ich möchte dabei nicht ins Detail gehen. Es handelt sich aber nicht um Fragen der Charakter- oder Willensschwäche. Abgesehen von Dingen, auf die man einfach keinen Einfluss hat, gibt es auch solche, von denen man sich ganz bewusst dafür entscheidet, sie zu Ende zu bringen, und das braucht mitunter Zeit.
Ich bin nicht besonders gut darin, zu warten. Ich habe die Dinge immer gleich in Angriff genommen. Ich bin immer losgefahren in die Fremde. Ich habe mir keine Zeit gelassen, Angst zu bekommen. Dieses eine Mal muss ich die Situation noch ein bisschen aussitzen, bevor ich anpacken kann. Die Aussicht, dass ich bald die Zügel wieder in die Hand nehmen kann, verursacht mir aber ein ganz anderes Gefühl. Das ist nicht die unangenehme Art von Angst. Eher ein aufgeregtes Kribbeln, das zwar irgendwie schwierig ist, aber gleichzeitig spannend und süß und großartig. Die gute Angst. Die, die man vor Herausforderungen verspürt, auf die man wahnsinnig große Lust hat.
Das Leben schenkt einem immer neue Aufgaben, die einen antreiben. Seltsamerweise bin ich mir sehr sicher, dass es sich auszahlen wird, diese Angst jetzt auszuhalten. Immerhin habe ich dafür die beste Unterstützung an meiner Seite, die man sich wünschen kann.