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Brückenschläge und Schlagworte

Istanbul genießen

Die Zeitumstellung von Samstag auf Sonntag stellt uns vor schwierige Aufgaben. Julia und ich wissen nämlich beide nicht, ob unsere Handys automatisch umstellen oder nicht, und fragen uns deshalb, auf welche Zeit wir den Wecker stellen sollen. Ohnehin ist es ein ziemliches Chaos damit – am Freitag beim Hinflug eine Stunde vor, Samstag Nacht eine Stunde vor, Montag beim Rückflug wieder eine Stunde zurück. Trotzdem bin ich nicht wirklich müde, als wir am Sonntagmorgen aufbrechen. Es ist eine seltsame Angelegenheit mit der Zeit in dieser Stadt. Sie vergeht anders als anderswo, viel langsamer. Jedesmal, wenn ich auf die Uhr sehe, habe ich das Gefühl, es müssten viele viele Stunden vergangen sein, und meistens ist es höchstens eine. Ich bin darüber immer wieder erstaunt und dankbar. Es heißt ja, dass ich noch mehr Zeit übrig habe, um sie hier zu genießen.
Mit der Tram fahren wir nach Kabataş zum Fähranleger. Eigentlich wollten wir auf die Prinzeninseln, aber die Fähren gehen zu ungünstigen Zeiten. Stattdessen überlegen wir nach Asien überzusetzen, aber wir verstehen das Bezahlsystem nicht und plötzlich ist die Fähre weg. Lange ärgern wir uns darüber nicht, zu schön ist das Wetter und zu herrlich die leichte Brise am Ufer des Bosporus. Wir beschließen, am Ufer nach Norden Richtung Ortaköy zu laufen. Vorbei am Dolmabahçe Sarayı, der von starkem Wachschutz umgeben ist, gelangen wir erstmal nach Beşiktaş.
 Eine schlichte kleine Strandpromenade lädt zum Teetrinken ein, und das tun wir denn auch. Hier spricht der Kellner nur wenig englisch, wir verständigen uns mit den Händen. Ich kann keine Touristen mehr erkennen. Ganz normale Leute laufen an uns vorbei, sitzen neben uns und trinken Tee und schauen auf das Wasser. Nach den zwei starken türkischen Çay ist mir ein bisschen schwummrig, auf dem Weg weiter kaufe ich mir schnell im Starbucks einen Keks – nicht einmal hier wird englisch gesprochen. Irgendwie untergräbt das so nett das Prinzip eines großen internationalen Unternehmens.

In Ortaköy war ich bisher nur bei Nacht, wenn sich die bunten Lichter von der Bosporus-Brücke  im Wasser spiegeln. Ich verbinde mit dem Ort eine besondere Magie. Emre, mein Couchsurfing-Gastgeber hat damals mit ein paar wenigen Worten alles gesagt: „Ah, Istanbul. Great place.“ Mit einem stillen, andächtigen Lächeln und in einem langsamen, bedächtigen Tonfall ausgesprochen klang das wie die größte Liebeserklärung, die ein Mensch einer Stadt machen kann. Als wir nun an der vielbefahrenen Straße Ortaköy immer näher kommen, bin ich wieder ziemlich aufgeregt. Die Bosporus-Brücke erscheint hoch über der Straße wie ein absurdes Stück Zukunft aus einem Science Fiction Film. Als wir nach rechts Richtung Ufer einbiegen, stoßen wir zuerst auf einen kleinen Basar. Er ist angenehmer zu entdecken als der Großen Basar in Sultanahmet. Hier wird man nicht aggressiv umworben, sondern kann auch mal einfach an einem Stand stehenbleiben und gucken. Wir haben inzwischen ziemlichen Hunger, mit drei Kilometern war die Wanderung von Kabataş hierher zwar nicht weit, aber die frische Luft und die Sonne machen großen Appetit.

Wir kaufen uns Kumpir, die leckeren Backkartoffeln, deren Fleisch mit Käse und Butter noch in der Schale zu einem sämigen Kartoffelbrei aufgeschlagen wird und die dann mit Salaten gefüllt werden. Es herrscht ein reges Gewusel um uns, und trotzdem gibt es genug freie Plätze auf den Bänken und Steinstufen am Ufer vor der Moschee, die leider wegen Sarnierung eingerüstet ist. Über uns brausen die Autos nach Asien, und vor uns schlagen leichte Wellen an.
Plötzlich applaudieren die Leute um uns herum und schauen auf die kleine Plattform hinter uns. Da steht ein junges Paar umringt von Menschen und umarmt sich – ein Heiratsantrag. Wir gucken zu, wie sie sich Ringe anstecken. Sie küssen sich nicht, sie halten sich nur fest, und auch das nicht lange, schon werden sie von allen Seiten von ihren Freunden beglückwünscht. Beide strahlen aus dem tiefsten Innern. Trotzdem halten sie eine Distanz, die Julia und mir ein wenig seltsam vorkommt. Sie hat wohl mit der Öffentlichkeit dieses Antrags zu tun, das allein ist vermutlich schon etwas ganz besonderes. Und Ortaköy ist für diese Geste wirklich ein geeigneter, ein wunderschöner Ort, dessen Romantik dennoch nicht so sehr auf der Hand liegt, dass ein Antrag allzu kitschig wirkt. 

Wir schlendern zurück nach Kabataş. Bei Beşiktaş flattern selbstgemachte gelbe Drachen im Wind und stürzen wieder gen Boden. Wir kaufen uns ein Eis. Am Fähranleger zeigt das Thermometer 24 Grad. Ich denke darüber nach, dass es sich so anders anfühlt, mit Julia hier zu sein. Sie sieht Dinge, die ich nicht sehe. Und ihr gefallen andere Dinge als mir. Vielleicht ist es so, dass man jeden Ort, den man zur Gänze erleben will, einmal mit und einmal ohne Gesellschaft erkunden sollte.

Mit der Tram fahren wir wieder nach Eminönü und laufen mehr oder weniger der Nase nach zur Süleymaniye Moschee. Dort war auch ich noch nie. In den kleinen Gassen, gibt es wieder die absurdesten Dinge zu erstehen. Julia kauft hübsche türkische Teegläser mit Untertassen und kleinen Löffeln. Vor vielen Läden stehen große Säcke mit Tabak in unterschiedlichsten Farben. Ein bisschen stelle ich mir vor, dass es so früher in Hamburg in der Speicherstadt ausgesehen haben könnte, nur mit einer größeren Warenvielfalt. Der Muezzin beginnt zu rufen, und wir verlassen das dichteste Getümmel, um über eine kleine Treppe auf eine Straße zu gelangen, die schon von der Mauer des Moschee-Areals begrenzt wird. Hier erstehe ich in einem kleinen Laden noch eine neue Džezva, wie sie auf dem Balkan heißen, oder türkisch: Cezve. Das sind die Kannen, in denen der türkische Kaffee gebrüht wird. Dann klettern wir über eine kurze Treppe in den Vorhof der Moschee. Wir genießen für einen Moment die atemberaubende Aussicht und betreten dann das wunderschöne Gebäude.

Im Gegensatz zur Blauen Moschee wird in dieser um das Tragen eines Kopftuchs gebeten, und die Schuhe müssen natürlich auch ausgezogen werden. Wir betreten das riesenhafte Gebäude, und rechts von uns sitzen in den kleinen abgetrennten Ecken die Frauen und beten – richtig, der Muezzin hat ja gerade erst gerufen. Ganz vorn am Mihrab stehen die Männer. Die Besucher sitzen auf dem Boden. Wir sind mitten ins Gebet geraten, dürfen aber offensichtlich bleiben. Mein Herz schlägt schneller. Ich habe das schon so lange gerne einmal miterleben wollen. Im Schneidersitz mache ich es mir auf dem Teppich bequem. Mein Kopftuch rutscht ein bisschen, ich muss es immer wieder zurechtzuppeln. Das macht mich ein bisschen nervös. Aber schließlich ist der Gesang des Imam von vorne so beruhigend, die Stimmung so friedlich und besonnen, dass auch ich die Ruhe finde, im Moment anzukommen.

Ich befinde mich in einer merkwürdigen Schwellensituation zwischen Beobachten und Mitmachen. Da gibt es so viele Eindrücke, so viele Fragen – warum hängen die kreisförmigen riesenhaften Leuchter so tief, dass man sich an ihnen den Kopf stoßen müsste, wenn man stünde oder liefe? Wie funktioniert dieses System von Stehen, Knien und Verbeugen zu dem Gesang, das dort vorne passiert? Wie fühlen sich die Frauen damit, dass zwischen ihnen und den Männern etwa 50 Meter Distanz liegen, und ihre Räume sogar mit sichtdurchlässigen spanischen Wänden versehen sind? Ist es das Takbir, „allahu akbar“, das ich im Gesang immer und immer wieder ausmachen kann, oder bilde ich mir das ein, weil es die einzigen arabischen Wörter sind, die ich kenne? Neben all diesen Fragen aber ist da die Spiritualität des Augenblicks, die mich zur Ruhe bringt und mich mit Gedanken der Demut und Dankbarkeit erfüllt. Wie glücklich bin ich, dass es diesen Ort, diese Stadt und diese Gefühle gibt!

Abends gehen wir noch einmal Shisha rauchen in dem gleichen kleinen Cafe wie am Abend zuvor. Wir lernen zwei deutsche Mädchen kennen, unterhalten uns den ganzen Abend und bleiben wieder viel länger als geplant. Duman fährt heute nicht nur Tee auf, sondern auch leckeres Gebäck, und er überlässt und eine Shisha kostenlos. Als der Laden fast leer ist kommt er mit einer Tüte an unseren Tisch, lässt uns unsere Teegläser leer trinken, und gießt uns Raki ein. Er bittet uns aber, die Gläser mit den Händen so zu umschließen, dass keiner sehen kann, was darin ist – wegen der Nähe zum alten Sultanspalast und den großen Moscheen Sultanahmets darf er hier keinen Alkohol ausschenken. Aber wer kann eine so fröhliche Einladung schon abschlagen, und er nimmt ja von uns kein Geld dafür. Wir lachen viel und ausgelassen. Weil die letzte Tram schon lange gefahren ist, nimmt Duman uns auf dem Heimweg im Taxi mit und verlangt auch dafür kein Geld von uns. Zwar machen wir uns unterwegs kurz Sorgen, in welche Richtung das Taxi uns bringt, denn es muss in einer riesigen Kurve Sultanahmet umfahren, aber wir landen wohlbehalten an der uns bekannten Straßenecke. Duman verabschiedet uns beide mit einer herzlichen Umarmung. Und meine Skepsis gegenüber hilfsbereiten Menschen ist endgültig gewichen.

Am nächsten Morgen kommen wir noch auf einen letzten türkischen Kaffee und Tee im Shisha-Cafe vorbei, bevor wir zum Flughafen müssen. Tagsüber herrscht eine andere Stimmung – aufgeräumter. Erst jetzt bemerke ich, dass die gepflasterte Straße vor den Terassen voller kleiner bunter Plastik-Mundstücke für die Shishas liegt. Und auch die Kunstgalerie gegenüber kann ich ich jetzt erst richtig schätzen. „Don’t think“ steht dort an der Wand. Ein schönes Motto, wenn man dazu tendiert, die Dinge manchmal zu viel zu reflektieren. Ich habe in den letzten drei Tagen mehr gefühlt und getan als gedacht. Vielleicht liegt darin das große Potential dieser Stadt. Sie erlaubt es mir zu fühlen. Julia und ich sind uns beide einig: Wir waren nicht zum letzten Mal hier.

4 Kommentare

  1. Hallöchen, hab grad deinen Blog entdeckt! Istanbul ist einer meiner Traumreiseziele, ich will spätestens nächstes Jahr mal dort hin!Du hast ja auch schon viele interessante Reiseziele gesehen!!! Werde mich mal umsehen! Besonders deine Osteuropa-Reisen finde ich toll, da habe ich bisher noch nicht sehr viel von gelesen…ohoh ich sehe schon kommen, meine Bucket List wird wachsen… *g*Liebe Grüße von der ganz stark fernwehheimgesuchten Jana

  2. Bin mal wieder hier 😉 Freut mich, dass dir auch mein Blog gefällt und ich freue mich natürlich sehr, wenn du auch in Zukunft mal vorbeischaust :-)Liebe Grüße, JanaPS: Werde demnächst wieder nach Budapest fahren da muss ich mir doch gleich mal deinen Bericht dazu anschauen *g*

    • Ja, Istanbul ist einer meiner Sehnsuchtsorte – da kann man auch mehr als einmal hinfahren 🙂 Ich freu mich, wenn du dich umschaust, ich habe mir deinen Blog heute auch schon angesehen und werde bestimmt in Zukunft öfter mal bei dir vorbeischauen!

  3. Instanbul ist echt eine tolle Stadt! Hab mir bei meinem letzten Besuch dort nur leider das Bein gebrochen… war aber am letzten Tag vom Urlaub und so konnte ich noch ein paar Tage hinten dran hängen. Würde diese Taktik aber trotzdem niemandem empfehlen. Aber sehr schöner Bericht!

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