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Brückenschläge und Schlagworte

London – City of London, East End, Hyde Park und South Bank

Manchmal hat man seltsame Gründe dafür, einen bestimmten Ort sehen zu wollen. Ich wollte zum Beispiel immer nach Prag. Ich hatte nämlich mit etwa 9 Jahren mal ein Lustiges Taschenbuch, in dem es eine Comic-Adaption von Franz Kafkas „Verwandlung“ mit Donald Duck als Gregor Samsa gab, und dieser Comic begann mit den Worten: „Prag – die goldene Stadt an der Moldau“. Vor meinem inneren Auge sah ich goldene Dächer und einen goldenen Fluss und goldenen Sonnenschein und wollte unbedingt nach Prag. Dieser Wunsch erfüllte sich im Jahr 2007. Nach London wollte ich auch schon sehr lange. Aber nicht wegen der Dinge, von denen ich schon berichtet habe. Ich wollte immer nur zur St. Paul’s Cathedral. Wegen des Disneyfilms „Mary Poppins“, in dem Mary Poppins Jane und Michael das Lied von der uralten Vogelfrau vorsingt, die jeden Morgen auf den Stufen der Kathedrale sitzt und Vogelfutter verkauft.
Eigentlich will ich an diesem Morgen in die Westminster Abbey zum Gottesdienst. Aber dort ist Wachschutz und alles ist voll von Menschen in seltsamen Uniformen, die diese künstlichen steifen Bewegungen machen und häufig eher lustig als ehrfurchterweckend aussehen. Man kommt nur mit einer Karte in den Gottesdienst. Ich pese über verschiedene U-Bahnhöfe und komme etwas außer Atem an der St Paul’s Cathedral an. Der Gottesdienst dort ist noch nicht losgegangen, aber es wird Zeit, deswegen ist mein erster Eindruck des imposanten Bauwerks nicht von der langsamen Freude des Entdeckens geprägt, die ich mir ausgemalt habe. Stattdessen eile ich die Stufen hinauf und lasse mir einen Gottesdienstzettel in die Hand drücken, um dann, endlich langsam, das Kirchenschiff zu durchqueren und schließlich unter der Kuppel zu stehen – und mir schießen die Tränen aus den Augen. Ich bin völlig überwältigt. Ein Kirchendiener fragt mich: „Alright?“ Ich stammle: „It’s so beautiful!“ Der Gottesdienst ist von einer wunderbaren Feierlichkeit, die Kirchenlieder getragener, mächtiger als zuhause, die Predigt dagegen von einer so anmutigen Mischung aus philosophischer Tiefe und lebensnaher Fröhlichkeit, dass ich fast noch einmal weinen muss. Es geht um Gleichheit, und ich gehe glücklicher aus dem Gottesdienst hinaus als ich es vorher war, und wieder ein bisschen idealistischer. Vielleicht mag ich das an der Kirche. Sie nimmt mir den Zynismus, den mir der Alltag aufzwingt.

Ich sitze nach dem Gottesdienst noch eine Stunde vor der Kathedrale um dann gemütlich zum Tower Hill hinüber zu laufen. Vor der Tower Bridge lasse ich ein klassisches Touristenphoto von mir machen von einem freundlichen Passanten, und am Tower Hill bestaune ich die uralten mächtigen grauweißen Mauern von außen. Es ist sehr lebendig hier, Eltern mit Kindern, junge Paare, Freundinnen, ältere Herrschaften, alle sitzen und laufen durcheinander, man hört alle zwei Meter eine andere Sprache und Londons ganze Lebendigkeit wird vor der Kulisse des ewigen alten Steins und der 2000jährigen Geschichte nur noch deutlicher.

Ich treffe mich mit Alexa am Trafalgar Square und wir gehen in Soho Kaffeetrinken, um dann ins East End zu fahren. Unterwegs treffen wir den Tod nicht auf Latschen, sondern auf dem Fahrrad – im Schaufenster des Liberty-Kaufhauses.

  

Im East End reizt ein kleiner Markt mit stylischen Klamotten, Taschen und Hüten zum Einkaufen, ich bin aber zu arm. Wir laufen durch die Brick Lane, anscheinend ist hier ein Festival, von überall kommt laute Musik unterschiedlicher Stilrichtungen. Wir gehen in einen phantastischen Plattenladen, der so viel Stil hat, dass Berlin mir dagegen vorkommt wie ein kleines Provinzstädtchen. Anschließend trinken wir Saft in einer Künstlerbar mit Lichtinstallationen und Filmprojektionen an den Wänden. Einer der Filme hat den Titel „Guilty Pleasure“. Der Schriftzug lautet: „My guilty pleasure is letting my girlfriend cut my toe nails. Don’t tell anyone though.“ Darauf folgt eine Animation mit blauen Füßen, einer Schere und riesigen Zehennägeln. Es ist großartig und ein bisschen abgedreht.

Wir fahren wieder nach Brixton und gehen bei einem kleinen, vollen Vietnamesen essen. Ich sage zu Alexa, dass in Berlin Inder, Vietnamesen und Thailänder doch häufig ziemlich ähnlich sind. Sie guckt mich entgeistert an. „Those are completely different things!“ sagt sie. Dafür gibt es in Berlin gutes türkisches Essen, denke ich mir. Das Curry schmeckt wunderbar, und ich habe danach große Lust, mir in einem Pub um die Ecke noch ein bisschen Jazz anzuhören. Das Pub hat Ähnlichkeit mit Irish Pubs in Deutschland, mit einer großen hölzernen Theke und bemalten Fenstern, die Jazzmusik will so gar nicht dazu passen, aber auch diese Reibung übt ihren besonderen Reiz aus. Wir kommen mit zwei Jungs an unserem Tisch ins Gespräch, einer von beiden macht Stand-up Comedy und redet auch so. Normalerweise, versichert mir Alexa, passiert sowas in London nie, die Leute kümmern sich lieber um sich selbst. Ich erzähle, dass in meinem Reiseführer steht, man solle keine fremden Menschen anlächeln, sie würden einen nur für verrückt halten. Der Comedian sagt: „If it was me, I’d be so grateful, it’d mean that you want to talk! I’d be like: What are your five favorite — food items??“ Der Cider schmeckt gut, und ich bin glücklich, als wir uns durch die sternklare Nacht auf den Weg nach Herne Hill machen.

 
Am nächsten Morgen frühstücken Alexa und ich zusammen Weetabix, dann muss sie zur Arbeit. Ich packe noch gemütlich meine Sachen, nehme einen leisen und fröhlichen Abschied aus der hübschen Straße in Herne Hill und fahre zur Victoria, schließe mein Gepäck ein und nehme den Bus zum Hyde Park. 
Der Park ist so weit und groß, dass man sich tatsächlich fast in ihm verlieren kann. Ich sitze am Serpentine Lake und betrachte die Morgen-Jogger, die Spaziergänger und ein lustiges Pärchen mit ungefähr 12 Hunden. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, es ist ein bisschen kühl und schon herbstlich. Langsam gehe ich über die Brücke zu den Kensington Gardens. Dort steht ein Schild: „DANGER! Shallow water. Do not jump  from the bridge.“ Jemand hat Teile der Schrift weggekratzt, statt „DANGER“ steht sort nun „ANGEL“. Mir gefällt’s. Ich folge dem Ufer des Sees nach Norden und staune über die Fauna, da sind viele verschiedene Enten, Schwäne, von denen einige grau sind und viel schöne als die weißen, Kormorane und Reiher, die unbeeindruckt und stocksteif auf den Planken im Wasser stehen. Am Peter Pan Denkmal bleibe ich kurz stehen. Ich  möchte auch nicht erwachsen werden. Wenn ich reise, ist es leichter, Kind zu bleiben mit einer unbändigen Neugier und Begeisterungsfähigkeit.

 
Von Paddington fahre ich nach Hammersmith, wo ich mich mit Steve zum Mittagessen treffe. Wir sind letztes Jahr zusammen in Montenegro und Albanien gereist. Ich kenne ihn nur mit Shorts und T-Shirt, plötzlich steht er mir mit blauem Nadelstreifenanzug gegenüber. Es braucht keine Minute Eingewöhnungszeit und es ist, als hätten wir uns gestern erst gesehen. Reisen verbindet auf eine ganz besondere Art. Die Sonne scheint, so schön auf den kleinen Platz vor der Deli, das Essen schmeckt und wir sprechen von unseren Leben, die so unterschiedlich sind und von unseren Reiseträumen, die sich so ähneln. Viel zu schnell müssen wir uns wieder verabschieden. 

Nachdem ich vorhin einen verrückten Umweg auf mich genommen habe, weil ich dachte, dass nur die Hammersmith and City tube nach Hammersmith fährt, bin ich auf dem Rückweg mit der District Line in kürzester Zeit wieder in der Innenstadt. Ich fahre bis Embankment und laufe auf die Südseite der Themse hinüber. Herrliche Aussichten tun sich auf, aber die Sonne steht hinter den Houses of Parliament und ich kann sie nur gegen die Sonne photographieren.

 
Also beschließe ich, die Atmosphäre einfach zu genießen und höre eine halbe Stunde den Straßenmusikern zu, die Johnny Cash spielen und singen mit einer Gitarre, einem Cello und einer Kiste, auf der einer Töne produziert wie andere es nicht einmal auf einem vernünftigen Schlagzeug könnten.

Schließlich muss ich doch einmal wieder zum Bus und zum Flughafen fahren. Etwas hat mich nach England gezogen, bevor ich diese Reise unternommen habe, und etwas zieht mich weiter dorthin. Es ist so ganz anders als die melancholisch-entspannte, fröhlich-ausgelassene, tragische und herzliche Schönheit des Balkans. Vielleicht war es Zeit für mich in ein Land zu kommen, das nicht so viele offene Wunden zeigt. Und es ist wirklich wunderbar, einen Ort wie London zu entdecken, den man aus Liedern, aus Texten oder Erzählungen präsent hat, ohne ihn zu kennen. Meine kugelrunden  neugiereigen Kinderaugen sind wenigstens noch nicht, auch und gerade auch im Blick auf London nicht, vollends erwachsen geworden.

4 Kommentare

  1. Sehr schöne Bilder von der englischen Hauptstadt. Ich war bisher nur einmal dort, kann mich aber noch ganz gut daran erinnern. Ich würde gern noch einmal dorthin reisen und dein Blog macht mich zugegebener Maßen sehr neugierig darauf.

  2. Yeah! Unglaublich schöne Blogeinträge!! 😀 Erinnert mich so an meine ersten Male in London. Aber ich kann Dir übrigens versichern, dass man diese kindliche Sicht und den Überraschungseffekt auch nach dem 20. mal in London nicht verliert 🙂 Deswegen liebe ich diese Stadt so :* Britta

  3. Das kann ich nur bestätigen. Auch nach einigen Besuchen hat London immer wieder etwas wunderschönes, auf das man sich jedes Mal wieder freut. Ich war zwar erst 12. dort, aber kann dies bisher auch nur bestätigen.

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