Ich bin jetzt das sechste Mal in Warschau. Zweimal auf Durchreise, das war jeweils im Frühling. Und viermal für jeweils ein paar Tage, immer zwischen Ende November und Anfang Februar. Vielleicht ist mein Eindruck von der Stadt ein unfairer, denn es ist tatsächlich immer dunkel und kalt, wenn ich da bin. Aber auch diese Stadt zählt inzwischen zu denen, in denen ich nicht völlig hilflos bin, sondern mich ein bisschen auskenne. Vom Hostel eile ich morgens durch die Krakowskie Przedmieście, eine Prachtstraße in der Innenstadt, über das wunderschöne Universitätsgelände, das mir immer das Gefühl gibt, durch die Kulisse eines Films zu laufen, der in den 20er Jahren spielt, die schiefen Stufen der Steintreppe durch den Park hinab in Richtung Universitätsbibliothek, die ich liebe. Sie zählt für mich zu den schönsten modernen Gebäuden, die ich je gesehen habe. Viel Glas, alles im Innern gibt einem ein bisschen das Gefühl, gleichzeitig draußen zu sein. An der Front stehen lange Zitate in großen Buchstaben – auf Altpolnisch, Altrussisch, Altgriechisch, Arabisch, Hebräisch und Sanskrit, außerdem mathematische Formeln und ein Satz Noten – Mathematik und Musik werden in die Abfolge der unterschiedlichen Sprachen integriert, was für eine wunderbare Symbolik.
Im Innenhof gibt es zwei Buchhandlungen, mehrere Cafes sowie einen Kiosk mit Tabak und Zeitschriften – alles, was sich das Studierendenherz während einer Lernpause wünscht. Ich freue mich darauf, hier zwei lange Konferenztage zu verbringen.
Wieder spaziere ich die Krakowskie Przedmieście entlang, von einer Buchhandlung zur nächsten. Letzten Winter war hier alles verschneit, hilflos lehnte ein herabgefallenes Straßenschild an einer Hauswand. Heuer ist es fast frühlingshaft warm, aber die Weihnachtsbeleuchtung ist schon aufgestellt. Es schießen wieder die lustigen Flämmchen in den langen Lichterketten an den Straßenlaternen himmelwärts. Wo keine Baustellen sind, ist die Stadt herausgeputzt wie im Festtagsgewand. Warschau macht sich bunter mit den andauernden Renovierungen und Restaurierungen in der Innenstadt. Besonders bemerkenswert ist diesbezüglich die Altstadt am Ende der Krakowskie Przedmieście. Hier stehen die hübschen bunten Häuser aus dem 17. Jahrhundert, die man von anderen polnischen Marktplätzen kennt – es sind jedoch bloße Rekonstruktionen. Der Altstadtkern wurde im Zweiten Weltkrieg nach harten Kämpfen im Warschauer Aufstand, die schon zu starker Zerstörung geführt hatten, schließlich von der SS völlig dem Erdboden gleichgemacht, und nichts blieb mehr von der alten Pracht übrig. Wieder aufgebaut wurde das Gelände schon in den späten 40er und 50er Jahren, so dass inzwischen die Gebäude immerhin wieder ein gewisses Alter erreicht haben. Dennoch kann ich mich hier niemals einer seltsamen Stimmung erwehren. Der Ort kommt mir vor wie Disneyland – eine Fassade aus Pappe und Plastik. Ich wünschte, es wäre anders, aber auch die große Menge an Touristen hilft mir nicht, die Tragik des Ortes durch die Schönheit zu ersetzen.
So ist mir Warschau ein ambivalenter Ort. Pulsierend und neu, historisch aufgeladen, echt und falsch. Grau an der Oberfläche, vielfältig im Innern. Wer nur kurz hindurchreist, kann der Stadt nicht gerecht werden. Sie zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn man ihr Zeit schenkt – ihren Museen, ihren Theatern und Gallerien – und wenn man sie mit Menschen entdeckt, die sich hier auskennen. Nicht umsonst heißt die Imagekampagne der Stadt „Zakochaj się w Warszawie“ – Verliebe dich in Warschau. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, sondern erst auf den zweiten.