Um 16 Uhr geht auf dem Harju-Hügel die Fahrradtour los. Unser Guide ist eine ausgesprochen hübsche Studentin namens Epp. Bevor ich mir auf die Zunge beißen kann, habe ich schon nachgefragt: „As in an iPhone?“ Sie lacht: „Yes, like an iPhone App, only spelled with an E.“ „How often do you hear that question?“ grinse ich. „Only every day. It’s ok. I’m your tourist app for this afternoon, ask me anything.“ Ihr Lachen ist so herzlich und ihre Augen so offen und klar, dass wir uns in ihrer Anwesenheit sofort wohlfühlen. Außer Wiebke und mir ist noch ein sympathischer Neuseeländer, Ian, dabei. Wir schwingen uns auf die Räder und rattern über das altstädtische Kopfsteinpflaster in Richtung Wasser.
Unsere erste Station ist ein Denkmal kaum außerhalb der Stadtmauern, das mich an das Denkmal am Platz der Luftbrücke in Berlin erinnert: Ein abgebrochener großer Bogen. Es soll an die gesunkene
MS Estonia erinnern, deren Untergang 1994 das schwerste Schiffsunglück der Nachkriegsgeschichte in Europa markiert. Epp bemerkt, dass fast jeder Este mindestens einen Verunglückten kannte und dass es sich so kurz nach der wiedererlangten Unabhängigkeit nicht besonders angenehm angefühlt hat, dass ein Schiff mit dem Namen des eigenen Landes gesunken war. Ich mag ja eigentlich Symbolik, aber bei solchen Dingen habe ich oft das Gefühl, dass sie übertrieben wird. Immerhin ist Estland ja noch da und schlägt sich, soweit ich das beurteilen kann, ganz gut. Das erste Schiff, das damals zur Rettung eilte und Schiffbrüchige bergen konnte, hieß übrigens wie ich: Mariella.
Wir fahren weiter an einigen ganz klassischen Plattenbauten vorbei. Epp macht wieder Halt und sagt ein paar Sätze dazu. Wiebke und ich nicken wissend; dass die Wohnungen in den Häusern alle gleich geschnitten waren und man sich überall zurecht finden kann, auch wenn man noch nie in genau diesem Gebäude war, das wissen wir – ich aus meiner Greifswalder Zeit und von meinen beruflichen Recherchen, Wiebke deswegen, weil sie gebürtig aus Potsdam kommt. Mir ist das in Berlin auch schon oft aufgefallen, wenn ich Couchsurfer oder Freunde zu Besuch hatte: Man muss alles, was mit Geschichte zu tun hat, sehr zielgruppenorientiert verpacken. Der Neuseeländer hat natürlich zu einer sozialistischen Vergangenheit viel weniger Bezug als wir.
Nun bewegen wir uns langsam aus der Stadt heraus und landen endlich in Kadriorg oder Catherinethal, einem Stadtteil mit wunderschönen kleinen Holzhäusern und grünen Alleen. Zunächst bleiben wir am Wohnhaus von
Anton Hansen Tammsaare stehen, einem großen estnischen Realisten und Existenzialisten. Mich kann man mit Schriftstellern natürlich immer ködern, aber Epp spricht so lebendig über sein Leben und sein Werk, dass vermutlich auch ein Bücherwurm Lust bekäme, sein Monumentalwerk „Wahrheit und Gerechtigkeit“ zu lesen. Es hat allerdings fünf Bände.
Nun fahren wir durch einen bezaubernden Park, in dem uns Epp die Grundzüge estnischer Geschichte erklärt. Ich begreife endlich ein bisschen besser, was es mit den deutschen Einflüssen auf sich hat: Überall im Baltikum haben im Mittelalter die Kreuzritter versucht, die heidnischen Stämme zu christianisieren; und da sie zuhause meist schlechter gestellt waren als hier, sind sie geblieben – und auch wenn Estland nie zu einem deutschen Staat gehört hat, waren die Deutschen immer präsent und haben als Baltendeutsche die Kultur mitgeprägt. Die Esten selbst sind dagegen immer Bauern gewesen, und im 19. Jahrhundert, als das nationale Erwachen in ganz Europa um sich griff, begannen auch hier einige kluge Menschen, sich weiterzubilden und für einen estnischen Staat zu streiten. Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Region zum Russischen Reich. An den Ersten Weltkrieg schloss sich dann ein Unabhängigkeitskrieg an und 1920 gewann Estland seine Unabhängigkeit und existierte zum ersten Mal als eigenständiger Staat. Dann kamen, wie in den anderen baltischen Staaten auch, die Russen, dann die Deutschen, dann wieder die Russen, und seit 1991 ist Estland da, wo es eigentlich schon vor 150 Jahren sein wollte. Die Geschichte des estnischen Staates ist nicht lang. Die seines Volkes schon.
Wir beobachten den Wachwechsel am Präsidentenpalast. Kaum Zäune, auch keine Besucher, alles sehr verschlafen und hübsch. Wir stehen zu viert da und unterhalten uns darüber, was es für ein lästiger Job sein muss, hier mehrere Stunden zu stehen und sich zu langweilen; und wir sprechen lange über kulturspezifische Vorstellungen von Sicherheit. Undenkbar, das man sich z.B. in den USA so nah vor das Weiße Haus stellen könnte; und in Berlin am Reichstag werden die Sicherheitsvorkehrungen meines Wissens auch immer umfangreicher. Epp erzählt, dass die Enkeltöchter des Präsidenten im Palast mal eine riesige Party gefeiert haben, als der Präsident nicht da war. Der Zugangscode für das Tor hatte vorher per SMS die Runde unter den jungen Leuten in Tallinn gemacht, und die Einrichtung sei hinterher recht ramponiert zurückgelassen worden. Unvorstellbar, aber sympathisch. Sowas passiert schonmal, wenn man Enkeltöchter hat.
Wir sprechen auch über die Preise in Tallinn und über die Krise. Laut Epp hat die Krise in Estland nur mäßig zugeschlagen, es seien sehr früh Gehälter gekürzt und Einsparmaßnahmen gemacht worden. Die Esten beschwerten sich auch über solche Dinge nicht. Nur bei einer Frage seien mal Leute auf die Straße gegangen: Als es um das
ACTA ging. Epp sagt: „We are an E-country. You can cut our wages, you can raise the prices, but don’t touch our internet!“ Manchmal muss man eben Prioritäten setzen.
Nun fahren wir ein etwas längeres Stück mit dem Fahrrad zum Song-Festival Gelände. Im Zusammenhang mit dem Nationalen Erwachen entstand das estnische Sängerfest schon im 19. Jahrhundert. Die Anlage ist für die Festivals im heutigen Ausmaß Ende der 1950er Jahre gebaut worden. Alle fünf Jahre singen hier Chöre, gemeinsam kommt der Festivalchor auf bis zu 30.000 Mitglieder. Wir stehen unter der großen Kuppel, Epp spricht nochmals von der Singenden Revolution, von der Bedeutung, die die traditionelle Musik für ihr Land und seine Unabhängigkeit gespielt hat, und ich bin gerührt. Wie wunderbar, wenn sich Menschen durch Musik von Gewaltherrschaft befreien können! Es hört sich natürlich alles sehr romantisch an, und man vergisst die politischen Begebenheiten dabei, aber hier mag ich sie wieder, die große, bewegende Symbolik. An der Seite der Anlage ist eine Plakette, dort steht der Text eines der wichtigsten estnischen Volkslieder, mit dem das Sängerfest traditionell beendet wird. Ian, Wiebke und ich lesen Teile davon vor, Epp muss lachen. Ian hat natürlich die größten Schwierigkeiten, Wiebke und mich, sagt sie, hätte man gut verstehen können. Es hört sich doch sehr skandinavisch an, als sie es nun vorliest, und ist an manchen Stellen dem Deutschen auch sprachverwandt. Epp gibt uns später die Internetseite für Busfahrpläne zur weiteren Planung unserer Reise – sie lautet www.bussireisid.ee, wie niedlich das klingt!
Über den Weg am Rand der Rasenfläche fahren wir auf den Hügel. Von oben sieht die Anlage noch imposanter aus. Ich versuche mir vorzustellen, wie hier alles voller Menschen ist, und wie Musik die klare blaue Sommerluft erfüllt. Es muss unbeschreiblich sein. Eine von den Parkbänken hat Lautsprecher eingebaut – da kommt das Lied, von dem wir eben unten noch sprachen, „Mu isamaa on minu arm“, Mein Vaterland ist meine Liebe. Es hat diese ursprüngliche, getragene Macht und ist wunderschön. Ein Video vom Sängerfest 2004 gibt es
hier.
Zum Abschluss geht es noch zum sowjetischen Ehrenmal am Ostseeufer. Die Aussicht hinüber auf das Stadtzentrum über die graublauen Fluten ist weit, offen und herrlich. Der Wind weht, und ich fühle mich aufgehoben in dieser winzigen internationalen Gruppe von liebenswerten Menschen, während mein Blick über die Landschaft schweift. Das Mahnmal selbst ist von jener faschistischen Ästhetik, die man nicht schön finden kann und deren imposantem Eindruck man sich doch nicht entziehen kann. Der Weg zurück in die Stadt führt noch an der Rusalka vorbei, einem Denkmal, das auf fast jeder Ansichtskarte von Tallinn zu sehen ist – Rusalka ist russisch und bedeutet Meerjungfrau, auch diese Statue erinnert an ein Schiffsunglück, aber die Urban Legend behauptet, es handele sich um Lenin mit Flügeln, wie Epp und augenzwinkernd berichtet. Die Esten haben Humor, das ist nicht zu leugnen.
Unter strahlend blauem Himmel kommen wir wieder am Harju-Hügel an. Wir verabschieden uns voneinander wie alte Freunde. Europa wird immer kleiner, und ich freue mich an dem Gefühl, dass dieses Konzept, dieses Europa, das wir nun seit etwas mehr als 20 Jahren aufbauen und mit dem aufzuwachsen ich das große Glück hatte, uns solche Glücksmomente schenken kann wie diesen Nachmittag.