Die Gegend wurde im Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee fast vollständig zerstört. Große Informationstafeln an der unteren Befestigung des Hügels informieren über diesen traurigen Teil der Stadtgeschichte. Russland hat bis in die 1990er Jahre die Bombardierung Tallinns geleugnet und die fast vollständige Zerstörung der Innenstadt den Deutschen angelastet. In der Aufarbeitung wird es so dargestellt, dass die Bombardierung Teil des russischen Plans war, als Befreiungsmacht auftreten und Estland so zum Beitritt zur Sowjetunion zwingen zu können. Der Blick auf die Geschichte ist mir auch hier, wie in Vilnius im Genozidmuseum, etwas zu plakativ. Ich möchte noch besser begreifen, wie die Geschichte hier verlaufen ist, denn im komplizierten Umgang mit der russischen Minderheit in der Region ziehen sich die historischen Fäden eindeutig bis heute fort.
Tatsächlich habe ich bisher noch nicht viel Zeit gehabt, einfach nur in mich hineinzuhören. Welche Bedürfnisse signalisiert mir mein Körper? Welche Eindrücke haben sich in mein Herz gebrannt? Welche Sehnsüchte haben die Erfahrungen in mir freigesetzt? In Gesellschaft ist es für mich schwerer, diesen Fragen nachzugehen. Ich merke nur in diesem Moment, den Geruch von frischem Gras in der Nase und die strahlende Sommersonne im Gesicht, dass ich mich in Tallinn wohl fühle, ohne dass ich mich anstrengen muss. Zuhause in Berlin verlangt mir die Stadt pausenlose Anstrengungen ab. Hier gibt es Ruhe und Schönheit, und das Reisen bringt die nötige Zwanglosigkeit und Freiheit dazu.
Ich kuschle mich auf meinen Pulli und halte ein paar Gedanken schriftlich fest, Mando Diao schallt aus meinen Kopfhörern. Plötzlich fällt ein Schatten auf mich. Ich erschrecke mich fürchterlich und drehe mich nach allen Seiten, aber ich sehe nicht woher der Schatten kommt. Da spricht jemand mit mir. Ich nehme den Kopfhörer aus den Ohren. „Excuse me?“ sage ich. Ein junger Mann steht neben mir. „I thought you were deed.“ Ich verstehe ihn nicht, habe mich vom Schreck noch nicht erholt und sage etwas unwirsch: „What?“ „Deed,“ wiederholt er und hockt sich hin. „Oh no, I’m not dead, don’t worry, I’m just writing,“ sage ich, und muss nun lachen. Da lächelt auch er. Mit den Worten „OK. Be cool!“ erhebt er sich und setzt seinen Spaziergang fort. Unaufdringlich und höflich, nur besorgt. Die Esten machen bisher einen sehr freundlichen und liebenswerten Eindruck.
An der Stadtmauer entlang wandle ich auf abseitigen Wegen ohne einen jeden Touristen zurück in die Altstadt und treffe mich mit Wiebke. Der Tag hat sehr gut angefangen.
Es ist der erste Blick auf die Ostsee auf dieser Reise, es ist windig und das Meer braust ungestüm vor uns. Ich muss zumindest einmal die Füße ins Wasser halten, obwohl es ziemlich kalt ist. Aber als das Salzwasser meine Knöchel umspült, freue ich mich wie ein kleines Mädchen. Die Ostsee. Sie ist mein Zuhause-Meer. Eine Weile stapfen wir durch den feinen weissen Sand am Wasser entlang, der Wind pustet uns um die Nasen und wir sind ganz froh, dass wir gegen den Sturm unsere Regenjacken angezogen haben, die uns warm halten. Einen freien, klareren Kopf hat mir so ein Ostseespaziergang noch immer beschert.
Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.
Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.
Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.
Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:
Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.
Der vollständige Text der Verfassung steht hier.
Nach dem Abendessen sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.
Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.
Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.
Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.
Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.
Wir kaufen uns Kumpir, die leckeren Backkartoffeln, deren Fleisch mit Käse und Butter noch in der Schale zu einem sämigen Kartoffelbrei aufgeschlagen wird und die dann mit Salaten gefüllt werden. Es herrscht ein reges Gewusel um uns, und trotzdem gibt es genug freie Plätze auf den Bänken und Steinstufen am Ufer vor der Moschee, die leider wegen Sarnierung eingerüstet ist. Über uns brausen die Autos nach Asien, und vor uns schlagen leichte Wellen an.
Plötzlich applaudieren die Leute um uns herum und schauen auf die kleine Plattform hinter uns. Da steht ein junges Paar umringt von Menschen und umarmt sich – ein Heiratsantrag. Wir gucken zu, wie sie sich Ringe anstecken. Sie küssen sich nicht, sie halten sich nur fest, und auch das nicht lange, schon werden sie von allen Seiten von ihren Freunden beglückwünscht. Beide strahlen aus dem tiefsten Innern. Trotzdem halten sie eine Distanz, die Julia und mir ein wenig seltsam vorkommt. Sie hat wohl mit der Öffentlichkeit dieses Antrags zu tun, das allein ist vermutlich schon etwas ganz besonderes. Und Ortaköy ist für diese Geste wirklich ein geeigneter, ein wunderschöner Ort, dessen Romantik dennoch nicht so sehr auf der Hand liegt, dass ein Antrag allzu kitschig wirkt.
Wir schlendern zurück nach Kabataş. Bei Beşiktaş flattern selbstgemachte gelbe Drachen im Wind und stürzen wieder gen Boden. Wir kaufen uns ein Eis. Am Fähranleger zeigt das Thermometer 24 Grad. Ich denke darüber nach, dass es sich so anders anfühlt, mit Julia hier zu sein. Sie sieht Dinge, die ich nicht sehe. Und ihr gefallen andere Dinge als mir. Vielleicht ist es so, dass man jeden Ort, den man zur Gänze erleben will, einmal mit und einmal ohne Gesellschaft erkunden sollte.
Mit der Tram fahren wir wieder nach Eminönü und laufen mehr oder weniger der Nase nach zur Süleymaniye Moschee. Dort war auch ich noch nie. In den kleinen Gassen, gibt es wieder die absurdesten Dinge zu erstehen. Julia kauft hübsche türkische Teegläser mit Untertassen und kleinen Löffeln. Vor vielen Läden stehen große Säcke mit Tabak in unterschiedlichsten Farben. Ein bisschen stelle ich mir vor, dass es so früher in Hamburg in der Speicherstadt ausgesehen haben könnte, nur mit einer größeren Warenvielfalt. Der Muezzin beginnt zu rufen, und wir verlassen das dichteste Getümmel, um über eine kleine Treppe auf eine Straße zu gelangen, die schon von der Mauer des Moschee-Areals begrenzt wird. Hier erstehe ich in einem kleinen Laden noch eine neue Džezva, wie sie auf dem Balkan heißen, oder türkisch: Cezve. Das sind die Kannen, in denen der türkische Kaffee gebrüht wird. Dann klettern wir über eine kurze Treppe in den Vorhof der Moschee. Wir genießen für einen Moment die atemberaubende Aussicht und betreten dann das wunderschöne Gebäude.
Im Gegensatz zur Blauen Moschee wird in dieser um das Tragen eines Kopftuchs gebeten, und die Schuhe müssen natürlich auch ausgezogen werden. Wir betreten das riesenhafte Gebäude, und rechts von uns sitzen in den kleinen abgetrennten Ecken die Frauen und beten – richtig, der Muezzin hat ja gerade erst gerufen. Ganz vorn am Mihrab stehen die Männer. Die Besucher sitzen auf dem Boden. Wir sind mitten ins Gebet geraten, dürfen aber offensichtlich bleiben. Mein Herz schlägt schneller. Ich habe das schon so lange gerne einmal miterleben wollen. Im Schneidersitz mache ich es mir auf dem Teppich bequem. Mein Kopftuch rutscht ein bisschen, ich muss es immer wieder zurechtzuppeln. Das macht mich ein bisschen nervös. Aber schließlich ist der Gesang des Imam von vorne so beruhigend, die Stimmung so friedlich und besonnen, dass auch ich die Ruhe finde, im Moment anzukommen.
Ich befinde mich in einer merkwürdigen Schwellensituation zwischen Beobachten und Mitmachen. Da gibt es so viele Eindrücke, so viele Fragen – warum hängen die kreisförmigen riesenhaften Leuchter so tief, dass man sich an ihnen den Kopf stoßen müsste, wenn man stünde oder liefe? Wie funktioniert dieses System von Stehen, Knien und Verbeugen zu dem Gesang, das dort vorne passiert? Wie fühlen sich die Frauen damit, dass zwischen ihnen und den Männern etwa 50 Meter Distanz liegen, und ihre Räume sogar mit sichtdurchlässigen spanischen Wänden versehen sind? Ist es das Takbir, „allahu akbar“, das ich im Gesang immer und immer wieder ausmachen kann, oder bilde ich mir das ein, weil es die einzigen arabischen Wörter sind, die ich kenne? Neben all diesen Fragen aber ist da die Spiritualität des Augenblicks, die mich zur Ruhe bringt und mich mit Gedanken der Demut und Dankbarkeit erfüllt. Wie glücklich bin ich, dass es diesen Ort, diese Stadt und diese Gefühle gibt!
Abends gehen wir noch einmal Shisha rauchen in dem gleichen kleinen Cafe wie am Abend zuvor. Wir lernen zwei deutsche Mädchen kennen, unterhalten uns den ganzen Abend und bleiben wieder viel länger als geplant. Duman fährt heute nicht nur Tee auf, sondern auch leckeres Gebäck, und er überlässt und eine Shisha kostenlos. Als der Laden fast leer ist kommt er mit einer Tüte an unseren Tisch, lässt uns unsere Teegläser leer trinken, und gießt uns Raki ein. Er bittet uns aber, die Gläser mit den Händen so zu umschließen, dass keiner sehen kann, was darin ist – wegen der Nähe zum alten Sultanspalast und den großen Moscheen Sultanahmets darf er hier keinen Alkohol ausschenken. Aber wer kann eine so fröhliche Einladung schon abschlagen, und er nimmt ja von uns kein Geld dafür. Wir lachen viel und ausgelassen. Weil die letzte Tram schon lange gefahren ist, nimmt Duman uns auf dem Heimweg im Taxi mit und verlangt auch dafür kein Geld von uns. Zwar machen wir uns unterwegs kurz Sorgen, in welche Richtung das Taxi uns bringt, denn es muss in einer riesigen Kurve Sultanahmet umfahren, aber wir landen wohlbehalten an der uns bekannten Straßenecke. Duman verabschiedet uns beide mit einer herzlichen Umarmung. Und meine Skepsis gegenüber hilfsbereiten Menschen ist endgültig gewichen.
Am nächsten Morgen kommen wir noch auf einen letzten türkischen Kaffee und Tee im Shisha-Cafe vorbei, bevor wir zum Flughafen müssen. Tagsüber herrscht eine andere Stimmung – aufgeräumter. Erst jetzt bemerke ich, dass die gepflasterte Straße vor den Terassen voller kleiner bunter Plastik-Mundstücke für die Shishas liegt. Und auch die Kunstgalerie gegenüber kann ich ich jetzt erst richtig schätzen. „Don’t think“ steht dort an der Wand. Ein schönes Motto, wenn man dazu tendiert, die Dinge manchmal zu viel zu reflektieren. Ich habe in den letzten drei Tagen mehr gefühlt und getan als gedacht. Vielleicht liegt darin das große Potential dieser Stadt. Sie erlaubt es mir zu fühlen. Julia und ich sind uns beide einig: Wir waren nicht zum letzten Mal hier.
Istanbul und ich, das ist die ganz große Liebe.
Blaue Moschee – Sultanahmet Camii |
Burger King Moschee |
Im East End reizt ein kleiner Markt mit stylischen Klamotten, Taschen und Hüten zum Einkaufen, ich bin aber zu arm. Wir laufen durch die Brick Lane, anscheinend ist hier ein Festival, von überall kommt laute Musik unterschiedlicher Stilrichtungen. Wir gehen in einen phantastischen Plattenladen, der so viel Stil hat, dass Berlin mir dagegen vorkommt wie ein kleines Provinzstädtchen. Anschließend trinken wir Saft in einer Künstlerbar mit Lichtinstallationen und Filmprojektionen an den Wänden. Einer der Filme hat den Titel „Guilty Pleasure“. Der Schriftzug lautet: „My guilty pleasure is letting my girlfriend cut my toe nails. Don’t tell anyone though.“ Darauf folgt eine Animation mit blauen Füßen, einer Schere und riesigen Zehennägeln. Es ist großartig und ein bisschen abgedreht.
Nachdem ich vorhin einen verrückten Umweg auf mich genommen habe, weil ich dachte, dass nur die Hammersmith and City tube nach Hammersmith fährt, bin ich auf dem Rückweg mit der District Line in kürzester Zeit wieder in der Innenstadt. Ich fahre bis Embankment und laufe auf die Südseite der Themse hinüber. Herrliche Aussichten tun sich auf, aber die Sonne steht hinter den Houses of Parliament und ich kann sie nur gegen die Sonne photographieren.
Schließlich muss ich doch einmal wieder zum Bus und zum Flughafen fahren. Etwas hat mich nach England gezogen, bevor ich diese Reise unternommen habe, und etwas zieht mich weiter dorthin. Es ist so ganz anders als die melancholisch-entspannte, fröhlich-ausgelassene, tragische und herzliche Schönheit des Balkans. Vielleicht war es Zeit für mich in ein Land zu kommen, das nicht so viele offene Wunden zeigt. Und es ist wirklich wunderbar, einen Ort wie London zu entdecken, den man aus Liedern, aus Texten oder Erzählungen präsent hat, ohne ihn zu kennen. Meine kugelrunden neugiereigen Kinderaugen sind wenigstens noch nicht, auch und gerade auch im Blick auf London nicht, vollends erwachsen geworden.
Ich schließe meinen Koffer für ein horrendes Geld am Bahnhof ein und kaufe mein Ticket nach Bristol für den nächsten Tag. Alle sagen „Mam“ zu mir, das kommt mir ganz komisch vor. „Thank you, Mam.“ „No Mam, you don’t go to Bristol from here, you go from Paddington, Mam.“ Höflich sind sie, die Engländer. Aber sie lachen wenig. Ich brauche erstmal ein Mittagessen und setze mich in eine Deli auf halbem Wege zwischen Victoria und Buckingham Palace. Es gibt Traditional Welsh Lamb Stew, und es schmeckt wirklich gut, allen Vorbehalten gegenüber der englischen Küche zum Trotz. Anschließend laufe ich am Buckingham Palace vorbei durch St. James’s Park und bin, wie damals in Istanbul, überrascht, dass im Herzen einer so großen Stadt so eine Friedlichkeit und Ruhe herrschen kann. In der Ferne blitzt zwischen den Bäumen das London Eye auf. Davor stehen viele weiße ehrwürdige große Gebäude, von denen ich noch nicht weiß, wozu sie da sind und was sie da sollen – ich weiß nur, dass sie schön aussehen, schön und mächtig und riesenhaft. London hat nicht die gemütliche, teppichweiche, gastfreundliche Herzlichkeit des Balkans, sondern eine kühle, eine majestätische Schönheit, die es ebenso schafft, mich zu berühren.
An den Churchill War Rooms vorbei laufe ich in Richtung Themse. Da erheben sie sich auch schon vor mir, die Houses of Parliament und Big Ben, der kleiner ist als ich ihn mir vorgestellt habe.
Es geht auf vier Uhr nachmittags zu, um viertel vor spielt Big Ben schon eine kleine Melodie. Als es vier Uhr schlägt, stehe ich mitten auf der Westminster Bridge. Die Glockenschläge donnern über den Fluss, als wollten sie die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern. Natürlich habe ich das Wordsworth-Gedicht „Composed Upon Westminster Bridge“ im Kopf, als ich hier stehe.
Earth hath not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.Never did sun more beautifully steep
In his first splendor, valley, rock, or hill;
Ne’er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! The very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!
Ich finde die Stimmung des Gedichts nicht wieder. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht morgens ist. Vielleicht, weil die Stadt überhauptnicht schläft.
Alles ist voller Touristen. Hier stört mich das nicht so sehr, wie es mich in Dubrovnik gestört hat, in eine Stadt wie London gehören einfach viele Menschen, es trägt zum Pulsschlag einer jeden Metropole bei, dass sie laut und geschäftig ist. Und wie viel gibt es zu sehen! Da unterhält sich ein etwas blässlich aussehender Anzugträger mit mausbraunem Haarschopf mit einer jungen Frau in orangenem Filzponcho mit einer wilden lila Mähne. Da versuchen Gehörlose, sich trotz der Menschenmassen mit dem ganzen Körper zu unterhalten und die Aufmerksamkeit ihrer Freunde zu erregen. Über allem dreht sich langsam und unerbittlich das London Eye.
Ich schlendere zur Westminster Abbey hinüber und setze mich eine Weile vor die Kathedrale auf den Rasen. Sie erinnert tatsächlich, wie es der Reiseführer versprochen hat, an Notre Dame de Paris. Der Eintritt ist teuer, ich genieße die Schönheit nur von außen.
Nach einer Weile mache ich mich auf den Weg, erneut an St. James’s Park vorbei, zur Mall und zum Trafalgar Square. Faszinierend finde ich die Sockel an den Ecken des Platzes, von denen nur drei permanent mit Standbildern zweier Generäle und König Georges IV. besetzt sind. Der vierte Sockel trägt derzeit ein überdimensionales Buddelschiff.
Die Hamburgerin in mir freut sich wie ein Schneekönig. Ich setze mich schließlich auf eine der langen Steinbänke, die den Platz säumen, schaue auf die National Gallery und Nelson’s Column, die von vier überlebensgroßen bronzenen Löwen bewacht wird, und lese mein Buch in der untergehenden Sonne. Neben mir sitzt eine spanischsprechende Familie, Eltern mit Zwillingen. Eines der kleinen Mädchen sitzt im Buggy, die andere turnt vor den Eltern herum. Der Vater füttert das sitzende Mädchen mit Erbsen und Mais. Ein Maiskörnchen fällt ihr in den Schoß. Sorgfältig hebt sie es auf und füttert ihre Schwester damit. Die Kinder strahlen.
Einen letzten Zwischenstop unternehme ich noch am Piccadilly Circus. Da steht einer und tanzt Ausdruckstanz mit einer solchen Körperspannung und Anmut, dass der zierliche Engle auf der Säule neben ihm aussieht wie ein Trampeltier. Ich kann mich kaum losreißen.
Schließlich treffe ich Alexa, die ich in Dubrovnik im Hostel kennen gelernt habe und bei der ich übernachten darf, an der Victoria Station und wir fahren zu ihr nach Herne Hill. Sie wohnt mit vier Mitbewohnern in einem entzückenden Cottage. Wir holen im Supermarkt ein kleines Abendbrot und erzählen uns, was uns seit unserem letzten Zusammentreffen alles so zugestoßen ist. Ich sinke nicht besonders spät auf die Matratze und schlafe fast sofort ein, der ganze Tag war aufregend und ereignisreich. Am nächsten Tag wird es nach Bristol gehen.
Am naechsten Tag fahre ich morgens mit dem Bus nach Dubrovnik. Ich wollte letztes Jahr so oft herfahren, ich kann gar nicht glauben, dass es dieses Mal klappen soll. Der Busfahrer kommt mir bekannt vor. Ich habe kurz den Eindruck, es koennte derjenige sein, der mich letztes Jahr von Split nach Mostar gefahren hat und mit mir was trinken gehen wollte, dieser hier ist jedenfalls auch kurz davor mir ein aehnliches Angebot zu machen, laesst mich aber dann doch in Ruhe. Im Bus sitzt ausser mir nur ein aelterer Herr. An der Grenze werden wir ewig aufgehalten, weil mein Mitpassagier Medikamente dabei hat, die angeblich in Kroatien verboten sind. Ich halte das fuer eine Massnahme der Grenzer gegen Langeweile, an diesem uebergang passiert bestimmt nie was Spannendes. Dafuer ist der Blick auf die Adria geradezu atemberaubend.
In Dubrovnik muss man vom Busbahnhof mit dem Stadtbus zur Altstadt fahren. Voellig erschoepft komme ich im Hostel an, die Stadt ist schon auf den ersten Blick wunderschoen, aber fuerchterlich ueberfuellt. Ich liege wieder einen Tag flach, irgendwie habe ich mich ein bisschen uebernommen. Am naechsten Tag gehe ich morgens auf den kleinen Markt und es riecht so gut nach Lavendel. Ueberall wird er in kleinen dekorativen Saeckchen verkauft. Ich bleibe stehen und schnuppere in die Luft. Sofort sagt ein Verkaeufer: „You want? My wife make! Good price!“ Ich schaue mir seine Ware kaum einen Bruchteil von einer Sekunde an, da hat er schon die Plastiktuete in der Hand, in die er meinen Einkauf packen will. Sofort suche ich das Weite – aus Prinzip. Ich schaele mich durch die Massen von Tourgruppen mit ihren Reiseleitern, die Regenschirme oder Schilder hochhalten, damit sich die Gruppe nicht verliert. Unter den Arkaden vor der Orlando-Statue steht eine Musikgruppe – eine junge Frau mit Geige und zwei Maenner mit Gitarre und einer wunderschoenen Querfloete aus schwarzem Holz. Sie spielen barocke Musik, die wunderbar zu der Stadtkulisse passt. Ich setzte mich hinter die Musiker auf den kalten weissen Stein in den Schatten und finde etwas von dem Zauber, der diese Stadt auszeichnet und dessen Ruf ihr vorauseilt. Das Stueck ist zu Ende und es ist, als gaebe es ein lautes Knacken oder das Zersplittern von Glas in meinem Kopf – die Musiker spielen Memories aus Cats, kitschiger geht es kaum. Sicherlich muessen sie die Beduerfnisse der Touristen bedienen, aber mir kommt Dubrovnik in diesem Moment vor wie Disneyland. Ein Spielplatz fuer Erwachsene, und ein Klischee. Sehnsuchtsvoll denke ich an die dalmatinischen Staedte, die ich letztes Jahr ausserhalb der Saison besucht habe. Im April muss es hier wunderbar sein. Weiss die Steine, rot die Daecher, maechtige Stadtmauern und eine fluechtige Erinnerung an Bombennaechte in den Neunzigerjahren – ich schaffe es nicht, das alles aus dem Sumpf von ueberteuerten Restaurants und Unterkuenften, kitschigen Souvenirs und aufdringlichen Verkaeufern herauszuholen. Es bleibt eine vage Ahnung von der Faszination, die Dubrovnik auf viele Besucher ausuebt.
Die Tage in Dubrovnik fliegen auf diese Weise ein bisschen an mir vorbei, ich kann mich nicht ganz auf die Stadt einlassen, ob das an meiner Gesundheit liegt oder nur daran, dass es mir einfach zu touristisch ist, kann ich nicht sagen. Auf dem Weg zum Tourist Office, das mir meinen Shuttle nach Korcula stellt, freue ich mich wahnsinnig auf Ulli und auf ruhige Inseltage.
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