In der Tagesschau spricht einer von den unsäglichen alten weißen Männern von Obergrenzen und „Verlierermodus“. Bei twitter werde ich von jemandem retweetet, der in seiner Timeline die „Zerstörung Deutschlands“ durch Muslime behauptet. Auf einer Internetseite, die ich zur Vorbereitung auf die Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus besuche, beschimpft ein SPD-Politiker mit wüsten Worten eine Kollegin von den Grünen. Nicht in einer Kommentarspalte oder auf einer Veranstaltung, auf seiner persönlichen Internetseite, auf der er seine Positionen erklärt. Mich frustriert und ärgert das alles.
Und dann sitze ich plötzlich in meiner Wohnung auf dem Holzdielenfußboden und weine bitterlich. Aus einem ganz anderen Grund. Mich überfällt eine riesige Sehnsucht nach meinen Eltern.
Meine Eltern fehlen mir plötzlich so sehr, dass mir alles weh tut. Ich überlege, sie anzurufen. Dann fällt mir ein, dass ich mich ja zusammenreißen werde, wenn ich sie am Telephon habe, dass ich zuhören werde und Mut zusprechen. Gar nicht so sehr, weil ich muss, sondern weil es einfach so passieren wird.
Ich überlege, wann ich meine Mutter das letzte mal fröhlich am Telephon hatte. Das ist vielleicht noch gar nicht so lange her. Fröhlich heißt allerdings: nicht in Tränen aufgelöst, sondern nur ein bisschen gedämpft. Wann hatte ich meinen Vater das letzte mal fröhlich am Telephon? Das ist lange her. Fröhlich heißt bei ihm aber eben auch fröhlich. Oder ist das nun auch vorbei? Ich greife zum Hörer. Meine Eltern gehen nicht ran.
Gestern habe ich alte Briefe meiner Eltern gefunden. Ein Ordnerfach voller Liebesbeweise, auch wenn nicht alle so aussehen. Manche sehen auch aus wie Erziehungsmaßnahmen oder „gute Ratschläge“. Manche äußern Bedenken gegenüber Plänen, von denen ich mich erinnere, dass ich sie als Empfängerin völlig absurd fand – die Bedenken, nicht die Pläne. Ich hatte irgendwann eine klare Strategie mit meinen Eltern, was meine Pläne anging: Ich fand heraus, was ich wollte und wartete, bis ich so überzeugt von meinem Plan war, dass ich meine Eltern in Grund und Boden würde argumentieren können, wenn ich es ihnen sagte. Studium. Auslandsaufenthalt. Praktika. Reisen. Am Anfang war das für die beiden schwer zu ertragen, besonders für meinen Vater. Aber dann war er sehr schnell sehr stolz und antwortete meistens auf meine Ausführungen: „Du wärst auch eine gute Strafverteidigerin geworden.“ Ein Kompliment. Glaube ich. Ein versteckter Liebesbeweis wie in den Briefen, die ja alle nur ihre unendliche Sorge um mich ausdrücken.
Heute kann ich ein paar mehr von den Bedenken verstehen und glaube, dass ich es meinen Eltern mit meiner großen Selbstständigkeit nicht immer leicht gemacht habe. Vielleicht wissen sie es deswegen so zu schätzen, dass ich nun versuche, mich intensiv um sie zu kümmern – zuzuhören, Mut zuzusprechen. Ihnen zum hundertsten Mal das Handy zu erklären. Zu vermitteln, wenn es zum Streit kommt. Weil Mami den Tisch für drei Personen gedeckt hat, obwohl sie nur zu zweit sind und Papi sich deshalb so erschrickt, dass er laut mit ihr wird. Wenn Papi verzweifelt ist, weil Mami nicht mehr kochen kann und er nicht weiß, wie er das nun mit Mitte 70 plötzlich noch lernen soll. Wenn der Arzt ihnen irgendetwas aufschreibt und sie beide nicht verstanden haben, was Mami davon wann und wie oft nehmen soll. Wenn sie sich nicht mehr erinnern können, wann der Friseurtermin war. Dinge, die sich plötzlich zu unsäglichen Hürden auftürmen und die beide vor schier unüberwindbar scheinende Herausforderungen stellen.
Ich habe Sehnsucht danach, zuhause anzurufen, meine Eltern lächeln zu hören und mit ihnen über Belanglosigkeiten zu schwatzen. Es ist ein so kleiner Wunsch und er ist so weit weg. Ich will nicht undankbar sein. Aber sie fehlen mir so, und an einem Abend wie heute muss ich dieses Fehlen ins Internet schreiben, damit es nicht alleine in meinem Kopf herumwütet und mich zur Verzweiflung treibt, weil ich nur so unsäglich wenig für sie tun kann.