Meine Zwanziger bestanden zu großen Teilen darin, herauszufinden, wer ich bin und dem ein unglaubliches Gewicht beizumessen. Ich gratuliere an dieser Stelle allen, die diese Dekade für andere, vielleicht wichtigere Dinge genutzt haben. Bei mir war die Suche nach mir selbst, die ich auf allen möglichen Metaebenen zu reflektieren versuchte, sehr ausgeprägt. Ich war zehn Jahre lang ständig damit beschäftigt, mir Herausforderungen zu suchen, an denen ich wachsen konnte, und ich habe es geliebt, dieses Wachsen.
Intellektuelle Herausforderungen habe ich mir an der Uni gesucht. Die ersten kulturtheoretischen Texte waren die Hölle für mich, aber ich kämpfte mich schließlich auch durch die dekonstruktivistischen Untiefen eines Jacques Derrida und die poststrukturalistischen Wüsten eines Gilles Deleuze, die einem ein abstraktes Denken abverlangen, das sich am Rande des Menschenmöglichen bewegt. Kulturelle Herausforderungen habe ich mir auf Reisen gesucht. Alleine Backpacken, aber nicht da, wo alle hin wollten, nicht in Südostasien oder Mittelamerika, sondern auf dem Balkan, wo jetzt die Flüchtlingsströme herkommen. Private Herausforderungen habe ich mir mit anderen Menschen gesucht. Ich war gierig danach, Menschen kennen zu lernen, ihre Sichtweise zu erfahren, zu verstehen, zu hinterfragen – manchmal sehr zu meinem Nachteil, denn nicht alle fremden Gedankenwelten sind gut für einen.
Ich habe in diesem Prozess auch gar nicht immer nur an mich gedacht, sondern sehr viel Inspiration aus einem beinahe exzessiven ehrenamtlichen Engagement gezogen, von dem mir mal ein unsensibler Therapeut anriet, es bleiben zu lassen, weil er es für ein Zeichen mangelnder Intelligenz hielte, die eigenen Ressourcen auf andere Menschen zu verschwenden. Der Mann war ein Idiot, und der Einsatz für andere nicht selten das einzige, aus dem ich Kraft und Sinnhaftigkeit zog. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich aus rein altruistischen Gründen dabei geblieben wäre, wenn ich nicht immer das starke Gefühl gehabt hätte, dass es einen fähigeren, erwachseneren oder sonstwie besseren Menschen aus mir machte, dass ich selbst im besten Sinne daran wuchs.
Wenn ich auf diese Zeit zurückschaue, habe ich das Gefühl, dass ich nichts mehr fürchtete als die Langeweile und die Symptome dieser Angst dadurch rechtfertigte, dass der Mensch wachsen, streben, sich entwickeln muss. Wenn mir jemand versucht hätte, zu erklären, dass man eine Freude am Stillstand haben kann, so hätte ich diesen Gedanken empört von mir gewiesen. Stillstand hätte geheißen, sich zufrieden zu geben. Wie könnte man sich zufrieden geben, wenn man selbst doch immer so unzulänglich blieb, wenn es doch immer noch so viel zu lernen gab?
In diesem Jahr hat sich viel verändert. Meine Eltern werden älter, die Rollen in der Familie verschieben sich. Ich muss auf sie jetzt genauso aufpassen wie sie auf mich, und manchmal kann ich besser auf sie aufpassen als sie auf mich. Meine Beziehung festigt sich, eine gemeinsame Zukunft wird greifbarer, es gibt immer mehr Themen, die man mit einem bloßen „Mal sehen!“ nicht abtun kann, nicht abtun will. Gleichzeitig hatte ich nie so sehr das Gefühl, Zeugin historischer Ereignisse zu sein wie im Jahr 2015. Eurokrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise. Bilder, von denen man nicht abgestumpft sein kann. Ich stelle mir vor, wie mich meine Kinder später mal fragen: „Mami, wie war das damals, 2015?“ Und ich versuche, Dinge zu verstehen, die um mich herum passieren, damit ich sie vielleicht irgendwann erklären kann.
Die Beobachtung, die mich im Moment beschäftigt, ist diese: Ich nehme mich selbst nicht mehr so wichtig – und das in einer Zeit, in der alle Lifestyle-Medien voll sind von Achtsamkeit. Man soll auf sch hören, auf sich achten, sich ernst nehmen, weil man sonst nicht glücklich werden kann. Ich schaue mich um, und ich sehe viele Menschen, die sich selbst wahnsinnig ernst und wichtig nehmen, und ich habe den Eindruck, dass keiner von ihnen glücklich ist. Vielleicht hat man gelernt, auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu achten, wenn man eben nicht mehr das Gefühl hat, sich ständig um sich selbst kümmern zu müssen, sondern einfach ein bisschen leben kann, ein bisschen mit sich selbst leben kann. Ich kann ganz gut mit mir leben, und so lange sich das nicht ändert, muss ich eigentlich nicht mehr über mich wissen.