Twitter ändert dich. Twitter ändert sich.
Vor einem Jahr hätte ich hier einen ganz anderen Text über Twitter geschrieben als heute. Vermutlich wäre es eine Liebeserklärung gewesen. Vielleicht auch eine lange Reflexion darüber, dass meine Freunde aus dem so genannten RL nicht nachvollziehen können, wie etwas Virtuelles so viel Raum im Leben einnehmen kann. Eine Verteidigung dieser Welt und ihres ganzen wunderbaren chaotischen Zaubers. Denn auch ich habe ja vorher nicht damit gerechnet, dass man da ehrliche Unterstützung und tiefe Enttäuschung, lautes Lachen und bitterliches Weinen, echte Liebe und ebenso echten Liebeskummer finden kann.
Als ich anfing zu twittern, lag das eigentlich daran, dass ich einen Blog promoten wollte. Nicht diesen, sondern einen anderen. Und nicht von dem Account, mit dem ich jetzt auf twitter unterwegs bin, sondern von einem anderen. Ich machte Werbung und netzwerkte. Es hat gedauert, bis ich die soziale Dimension hinter dem sozialen Netzwerk erkannte, aber dann erwischte mich der blaue Vogel auf ganzer Linie. Twitter wurde ein großer Teil meines Lebens.
Twitter hat mich verändert. Ich habe so viele neue Perspektiven gefunden, dass es mich manchmal überforderte. Ich sitze an einem Sonntagnachmittag im Schlafanzug auf meinem Sofa, schreibe diesen Text und muss lachen, weil ich so ein Twitter-Klischee bin. Was haben mir vorher Einhörner, Nutella, Mett und Sätze wie „Ihr kennt das“ oder „Winken Sie mir ruhig“ bedeutet? Twitter ist eine kleine eingeschworene Gemeinschaft mit ihren eigenen Kommunikationsregeln, Insidern und ihrer Gesellschaftsstruktur. Auch ich fand meine Crowd, und ich fühlte mich zugehörig und aufgehoben, als ich im RL trotz eines großen Freundeskreises einsam war.
Irgendwie macht es mich traurig, dass Twitter mir noch mehr Freude machte, als ich noch viel unglücklicher war.
— Brückenmädchen (@bruecken_schlag) 2. Januar 2015
In meinem Leben hat sich wahnsinnig viel verändert im letzten Jahr. Twitter ist daran alles andere als unschuldig. Aber jetzt, da es mein Leben so verändert hat, habe ich immer öfter den Eindruck, als gehörte ich dort nicht mehr hin. Nicht nur mich hat Twitter verändert. Sich selbst auch.
Als ich begann, Twitter zu entdecken, da war ich unbefangen und sehr offen. Ich verstand die sozialen Strukturen nur langsam. Tittenselfies und Penis-Avas kenne ich bis heute zum Glück nur gerüchteweise. Aber es gibt natürlich auch einfach ganz natürliche Grüppchenbildung wie in jeder sozialen Situation. Wer sich besonders mag, findet sich zusammen. Daraus ergeben sich dann aber ebenso konfliktuöse Situationen wie im RL auch, und zwar spätestens dann, wenn sich die Menschen hinter den Accounts in der Realität kennen lernen. Ich habe noch in keinem sozialen Gefüge gesteckt, in dem so häufig das Gefühl aufkam, sich in jemandem getäuscht zu haben. Ich habe das Gefühl, mich in Twitterern getäuscht zu haben; Twitterer, die ich kenne, haben das Gefühl, sich in anderen Twitterern getäuscht zu haben; und ich weiß, dass auch Twitterer das Gefühl haben, sich in mir getäuscht zu haben. Aber ich habe niemanden absichtlich getäuscht. Ich habe bestimmte Seiten an mir nicht gezeigt, weil ich gar keine Gelegenheit dazu hatte – weil sie in dem Moment nicht wichtig waren. Die Enttäuschung resultiert dann in Blocks, Unfollows oder Löschungen, alles schraubt sich künstlich noch weiter in die Höhe und ist furchtbar dramatisch. In der Realität rechnen wir mit solchen Erlebnissen. Auf Twitter entsteht diese seltsame Nähe, die suggeriert, man wüsste es besser, man kenne sich wirklich, man hätte verstanden, wer der andere ist und wie er tickt. AberTwitter ist eben letztendlich auch „nur“ eine Abbildung des RL im virtuellen Raum. Warum sollte es besser sein als die Menschen, die daran teilhaben?
Und dann gibt es auch Phänomene wie die Diskussionen über „die Elite“, also Accounts mit hohen Followerzahlen und deren vermeintliche Arroganz, und die so genannten „kleinen Accounts“, die ebenso gehört werden wollen. Kein Mensch kann mir erklären, wann Elite anfängt und wer dazugehört, wer sich da eigentlich genau wem gegenüber daneben benimmt und wer deshalb darunter leidet. Ebenso anstrengend wie Elite-Diskussion ist die sich ständig wiederholende Metadiskussion über die Elite-Diskussion. Wer sich über etwas aufregen will, findet eben immer etwas – die einen die Elite, die anderen die, die sich über die Elite aufregen. Anfangs hat mich das nicht gestört. Langsam fällt mir das ewige Gejammer mächtig auf die Nerven.
Unangenehmer als die Elite noch aber finde ich das Konzept des „Dark Twitter“, bei dem sich ausschließlich verschlüsselte Zweitaccounts untereinander folgen und über die offenen Accounts reden, ohne dass diese Einsicht bekommen können. Zum Teil gibt es auch einen ganz offenen Umgang mit verschlüsselten Zweitaccounts, die auf dem Erstaccount beworben werden – aber nur für die „coolen“ Leute, während der „Pöbel“ sich mit dem Erstaccount begnügen soll. Satire hin und her, mich erinnern solche Mechanismen an billiges Schulhof-Mobbing und ich finde das ekelhaft.
In der Konsequenz stellt sich für mich immer häufiger eine Frage, mit der ich nicht allein zu sein scheine:
Haben wir eigentlich noch Bock auf Twitter?
— Jan Gronenthal (@jangronenthal) 21. Januar 2015
Es gibt so viele Unterschiedliche Gründe, auf Twitter zu sein. Manche kamen, um einen Liebeskummer zu verarbeiten, andere finden Zuspruch in ihrer Depression, andere sind einsam und brauchen Selbstbestätigung, um die Hoffnung nicht ganz zu verlieren. Einige treibt die kreative Herausforderung der geistreichen Nachricht in 140 Zeichen oder schlicht die Langeweile bei der Arbeit. Einige dieser Dinge kann man aber tatsächlich „durchspielen“, sie haben sich irgendwann aufgebraucht oder abgenutzt. Und was passiert dann?
Was Twitter früher für mich war, das brauche ich nicht mehr, denn es hatte viel damit zu tun, dass ich Dinge in meinem Leben vermisste, die ich auf Twitter fand und die ich jetzt auch außerhalb von Twitter habe. Ich bin trotzdem noch da, und manchmal weiß ich nicht genau warum. Ein Teil ist Gewohnheit. Ein wichtigerer Teil sind die Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind. Ein Teil ist die Dankbarkeit, weil Twitter und die Twitterer für mich da waren, als ich sie nötig hatte.
Ich hänge an Twitter, und irgendwie will ich nicht gehen. Es sieht so aus, als müsste ich mich dem anpassen, was Twitter aus mir gemacht hat und was Twitter seinerseits geworden ist. Daran festzuhalten, was es einmal für mich war, ist albern, wenn ich doch das, was es einmal für mich war, gar nicht mehr will. Unmöglich ist es außerdem, denn dem ständigen Wandel auf Twitter kann man sich ohnehin nicht entziehen. Ich glaube manchmal, ich warte einfach darauf, dass es sich wieder weiter verändert und dann wieder besser zu mir passt. Und so lange ich warte, schicke ich weiter kleine, hoffentlich unterhaltsame 140-Zeichen-lange Lebensgeschichten und Lebensweisheiten da raus, wenn mir danach ist.