Auf dem Platz ist ein bunt geschmückter Stein in den Boden eintgelassen. An diesem Punkt ging am 23. August 1989 der so genannte Baltische Weg los, eine Menschenkette von 650 Kilometern Länge, die sich von Vilnius über Riga nach Tallinn zog. An ihr nahmen Menschen aus allen drei baltischen Staaten Teil, um an den Nichtangriffs-Pakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erinnern und gegen die sowjetische Okkupation zu protestieren. Wie der Reiseführer es empfiehlt, stellen wir uns jede einmal auf den Stein, drehen uns um 360 Grad und wünschen uns etwas – es soll dann ein Wunder geschehen. Die Idee des Baltischen Weges fasziniert mich maßlos, sie wird mich noch weiter beschäftigen auf dieser Reise.
Anschliessend klettern wir auf den Gediminas-Hügel. Von oben bietet sich erst der Blick nach links auf die Neustadt – modern, verchromt, fortschrittlich. Ein paar Schritte weiter, und man schaut über die alte Wehrmauer nach rechts auf die Altstadt: traditionell, farbenfroh und historisch.
Ein eindrucksvoller Kontrast, vor allem wegen der radikalen Trennung der zwei Seiten dieser Stadt. Neben mir tritt ein Pärchen an die Mauer – es sind mein Tübinger Kollege Daniel und seine Frau Barbara. Europa ist winzig, und die Welt der Slavisten ist es offenbar erst recht. Wir machen einen netten Schnack, die zwei erzählen uns von der Stadtführung, die sie später machen wollen und wir entscheiden uns kurzerhand, uns anzuschliessen. Von der Kathedrale geht es los, die Stadtführerin spricht schnell und ein bisschen hektisch, aber sie hat eine herzliche und gewinnende Art. Daniel und ich entdecken ein paar Ungenauigkeiten oder Fehler, aber Leute wie wir sind ja auch eines jeden Stadtführers schlimmster Albtraum. Zumindest besuchen wir auf diese Weise einige hübsche Ecken in der Stadt, und es beginnt alles langsam, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Am besten gefällt mir die Sankt-Annen-Kirche mit ihrer traumhaften backsteingotischen Fassade. Ich habe die Backsteingotik seit meinen Greifswalder Zeiten geliebt, und sie bedeutet mir überall ein Stück Zuhause.
Abends gehen wir mit Ieva und einer Freundin von ihr Pizza essen in Užupis, dem Künstlerviertel von Vilnius. An einer Spiegelwand steht die Verfassung der Republik Užupis, eines Kunstprojekts, in verschiedenen Sprachen. Besonders hübsch sind die Artikel 10 bis 13:
Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.
Der vollständige Text der Verfassung steht hier.
Nach dem Abendessen sitzen wir auf Ievas Balkon, langsam zieht ein Gewitter herauf, es ist schon ziemlich kühl und windig. Es blitzt in der Ferne, wir reden, trinken Bier oder Wasser und geniessen die etwas unheimliche, gewittrige Stimmung. Plötzlich bricht der Himmel auseinander. Ein riesenhafter Blitz teilt das dunkle Grau über uns für mehrere Sekunden, es sieht aus wie eine einzelne, überdimensionale Feuerwerksrakete. Donner ist immer noch nicht zu hören. Gerade haben wir uns vor lauter Staunen wieder beruhigt, da kommt ein zweiter, noch längerer Blitz. Ein unfassbares Schauspiel, das einem einzelnen kleinen Menschen durchaus die eigene Ohnmacht gegenüber der Natur zu Bewusstsein bringen kann.
Am nächsten Morgen giesst es in Strömen. Wiebke und ich schlafen aus, machen dann einen Spaziergang an der Neris. Am den Ufern sind rote Blumen gepflanzt, die Buchstaben bilden – von Ieva lernen wir später, dass am einen Ufer „Ich liebe dich“ zu lesen ist, am anderen „Ich liebe dich auch“. Wir sitzen anschliessend eine Weile vor der Sankt-Annen-Kirche und unterhalten uns. Für mich ist es neu und anders, die ganze Zeit auf Reisen jemanden um mich zu haben, der mir auch noch so vertraut ist wie Wiebke. Ich verlasse mich nicht so stark auf meine eigenen Eindrücke und bin nicht so sehr von meiner unmittelbar individuellen Wahrnehmung gelenkt. Dafür sieht ein zweites Paar Augen für mich mit und Wiebke weist mich auf Dinge hin, die ich selbst nicht bemerkt hätte.
Wir machen noch einen Abstecher zum Tor der Morgenröte. Als polnisches „Ostra Brama“ ist es mir bekannt, im Kapellchen oben im Torbogen hängt das Bild der Barmherzigen Muttergottes, der Matka Boska Ostrobramska. Sie ist eine der wichtigsten Ikonen in Polen, weil Vilnius früher polnisch war.
Gerade bei unserer Ankunft wird in der Kapelle eine polnische Messe gefeiert. Ich stehe im Torbogen, kann kaum einen Blick auf die Ikone werfen, weil sich die Menschen um mich so drängeln, und dann gibt es sogar eine Kommunion, alle möchten nach vorne und vor dem Bild der Maria den Segen des Priesters empfangen. Die Stimmung ist fast schon angespannt, ich finde sie nicht besonders heilig, geschweige denn erhaben. Wäre die Kapelle leer gewesen, ich hätte sicherlich ganz anders über die Wirkung der Ikone auf mich nachdenken können. So denke ich eigentlich nur darüber nach, wie ich es finde, dass hier nun auf polnisch Gottesdienst gehalten wird. Und ich denke daran, dass die Stadtführerin Adam Mickiewicz, der den Polen als ihr Goethe gilt, zwar nicht dezidiert als Litauer bezeichnet hat, aber wahrlich auch nicht als Polen. Der Streit um ihn ist ein ewiger, Mickiewicz schrieb auf Polnisch, aber eines seiner grössten Werke beginnt mit den Worten „Litwo! Ojczyzno moja!“ – „Litauen, mein Vaterland!“ Litauen ist wie Polen auch katholisch, aber die Menschen sind wohl weitgehend Atheisten. Wie ist es nun für die Litauer, wenn die Polen hier in der Torkapelle ihrer Religion nachgehen? Und welche Abneigungen gibt es hier? Ich bin mir darüber noch nicht ganz im Klaren, aber ich denke an die Ungarn und Slowaken, an das ehemalige Jugoslawien und an das Verhältnis Polens zu Russland und Deutschland. Historischer Hass oder zumindest historische Ressentiments. Überall in Europa scheinen sie tief in den Mentalitäten zu sitzen.
Am Mittwochmorgen besuchen wir das Genozidmuseum. Obwohl ich im Zusammenhang mit dem Wunderstein und dem Baltischen Weg schon im Reiseführer den Begriff gelesen habe, wird mir jetzt zum ersten Mal klar, wie tief der Stachel der sowjetischen Okkupation in den baltischen Ländern sitzt, wie viel Widerstand es gab und wie stark die Jahre des Kalten Krieges als Jahre der Fremdherrschaft empfunden wurden. Noch nie zuvor ist mir in diesem Maße auch die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus begegnet – und vor allem nicht mit einem ganz konkreten Beispiel dafür, dass der Nationalsozialismus das kleinere Übel für ein Land dargestellt hat. Insgesamt finde ich das Museum zu oberflächlich, auch zu subjektiv und emotional gefärbt. Ich fange aber an, mich in die Geschichte dieser Region hineinzudenken und in mir beginnen Fragen zu entstehen, von denen diese erste Reise ins Baltikum noch nicht alle beantworten können wird.