Wenn die Dinge über mir zusammenschlagen und mich unter sich begraben; wenn ich in einem Konflikt mit geliebten Menschen stecke und dem Problem mit meinen gewohnten analytischen Gedankenwälzereien nicht beikommen kann; wenn ich wieder wegen geringster Kleinigkeiten anfange zu heulen und nicht verstehe, warum; wenn ich anfange, mich selbst nicht besonders leiden zu können, dann ist mein Impuls immer der, wegzufahren. Am besten an einen Ort, den ich nicht kenne und mit nichts verbinde. Nur raus. Weg von hier.
Ich habe länger nicht darüber nachgedacht, dass das vielleicht irgendwie seltsam ist, bis ich kürzlich meinem Freund davon erzählte und er fragte: „Aber – wo willst du denn dann hin?“ Auf diese Frage gibt es keine grundsätzliche Antwort. Manchmal habe ich eine konkrete Idee, eine nahegelegene Stadt, die ich noch nicht kenne, oder eine Sehenswürdigkeit. Manchmal ist mir auch nur nach einer Himmelsrichtung. Gelegentlich will ich einfach nur zum Bahnhof und in den nächsten Zug steigen, der kommt. Oder mir ein Auto mieten und einfach links, rechts, links, rechts, links, rechts fahren, bis ich nicht mehr in der Stadt bin. Und irgendwann irgendwo ankommen. Egal wo, nur an einem Ort, der mir keine Gedanken aufdrängt. Ein reiner, unbefleckter Ort, der für mich noch ohne Geschichte ist. An dem ich mich sortieren kann.
Wenn ich das so schreibe, klingt es irgendwie danach, als liefe ich damit vor meinen Problemen davon. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich laufe auf sie zu. Denn ich bringe mich an einen Ort, an dem ich sie mir anschauen kann, von außen, und an dem ich nicht in dem Knäuel, das sie um mich gebildet haben, gefangen bin und nichts mehr sehen kann. Ich bringe eine gesunde Distanz zwischen mich und das Problem, gewinne Abstand. Dann schwindet die Angst, sich in dem Dschungel der unüberschaubaren Gefühle und Gedanken zu verlieren, ich kann wieder klar denken und atmen, und ich beruhige mich. Andere Menschen können das nur mit ihrem Kopf. Ich muss die Sache mit dem Abstand wörtlich nehmen. Ich muss meinen Körper wegbringen vom Ort des Konflikts, damit ich die Fäden entwirren kann.
Ich liebe es, mir unbekannte Orte zu entdecken, vor allem, wenn sie schön sind. Ich durchwandere sie, nehme sie in mich auf, mache mich mit ihnen vertraut, und wenn ich mir einen Eindruck verschafft habe, suche ich mir einen Ort zum Verweilen – eine Wiese im Park, eine Kirchenbank, einen Feldstein am Wegesrand, einen Platz im Cafe – und lasse alles auf mich wirken. Dann ist mein Kopf aufgeräumt, es ist, als hätte ich eine neue Seite in einem Buch aufgeschlagen. Und auf diesem leeren Blatt Papier kann ich mich in eine neue Ordnung bringen.
Und wenn ich dann wieder hinein muss in das Konfliktknäuel, in den über mir zusammengebrochenen Berg aus Knatsch und Stress, dann sehe ich die Einzelteile, die ich aus der Ferne beobachtet habe, kann die Fäden entwirren, und anfangen, aufzuräumen.